Familienleben

Probiert es mit Freundlichkeit

Probiert es mit Freundlichkeit

Freundlichkeit – ist sie abhanden gekommen?

«Früher grüsste man sich noch auf der Strasse mit einem freundlichen ‹Grüezi.› Und heute? Wo ist die Freundlichkeit geblieben?», fragt mich meine Nachbarin manchmal, wenn wir uns über Gott und die Welt unterhalten. Meine Antwort lautet: «Ich glaube, Freundlichkeit gibt es heute mehr denn je. Sie zeigt sich nur anders, und wir übersehen sie, weil wir nach den traditionellen Merkmalen der Freundlichkeit suchen.»

Frischer Wind

Allen Unkenrufen zum Trotz erlebe ich vor allem im Umgang mit jungen Menschen viel Freundlichkeit im Alltag. Statt mich höflich und korrekt mit «Sehr geehrte Frau Angelone» anzuschreiben, wählen sie oft ein frisches und herzliches «Hoi, liebe Rita» an. Wenn ich mit meinem Namen angesprochen werde, geht mir das Herz auf. Wenn ich in ein Sportgeschäft in der Stadt gehe, um für meine Jungs etwas zu kaufen, begrüssen mich die jungen Verkäuferinnen und Verkäufer mit einem kollegialen «Hallo». Sie beraten mich kompetent, mit einer Prise Witz und jugendlichem Charme. Besonders schön finde ich, dass meine Kinder in der Schule einen selbstverständlichen Umgang mit Komplimenten lernen dürfen und mir ganz ungekünstelt sagen können: «Mama, dein Kleid gefällt mir.» Das ist Balsam für meine Seele.

Freundlichkeit liegt im Trend

Die Freundlichkeit ist nicht verschwunden – im Gegenteil: Laut dem «World Happiness Report» hat die Pandemie den
netten Umgang miteinander weltweit sogar gesteigert, er liegt um rund 25 Prozent höher als vor der Pandemie. In jüngster Zeit ist Freundlichkeit sogar zum Trend geworden. Immer mehr Forschungsinstitute beschäftigen sich mit dem Thema und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft. An Schulen wird nun vermehrt Empathie und Freundlichkeit unterrichtet. Die Social-Media-Plattform TikTok ermutigt ihre Nutzerinnen und Nutzer, an der Hashtag-Challenge #CreateKindness teilzunehmen, indem sie herzerwärmende Videos teilen, die zur Verbreitung von Freundlichkeit anregen.

Von der Höflichkeit zur Herzlichkeit

Freundlichkeit hat in unserer Gesellschaft also nach wie vor einen hohen Stellenwert. Umfragen zeigen, dass sie zu den meistgeschätzten Eigenschaften zählt. Der Eindruck, dass sie manchmal fehlt, liegt an ihrem Wandel. Freundlichkeit hat sich entwickelt und zeigt sich heute moderner, frischer und spontaner. Nach heutigem Verständnis umfasst Freundlichkeit nicht mehr nur höfliches, respektvolles und hilfsbereites Verhalten gegenüber anderen, sondern vor allem auch Herzlichkeit. Der englische Begriff «Kindness» trifft es besser, denn Freundlichkeit umfasst mehr als nur Höflichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie schliesst auch Liebenswürdigkeit, Güte, Fürsorge und Achtsamkeit gegenüber Tieren, Pflanzen, der Umwelt und uns selbst ein. Freundlichkeit zeigt sich daher in Gesten wie dem behutsamen Entfernen einer Spinne aus dem Haus, dem Aufheben von Abfällen zur ordnungsgemässen Entsorgung oder dem achtsamen Umgang mit sich selbst. Ein weiteres wesentliches Merkmal wahrer Freundlichkeit ist, dass sie ohne Erwartung einer Gegenleistung praktiziert wird. Freundlichkeit hat nichts Berechnendes oder Manipulatives, sondern ist eine innere Haltung. Wer freundlich ist, sät Positivität und erntet auf natürliche Weise vielfältige Formen von Glück. Dies lebte auch Prinzessin Diana vor, die als Vorbild für Freundlichkeit galt: «Führen Sie eine zufällige Geste der Freundlichkeit aus, ohne eine Belohnung zu erwarten, in der Gewissheit, dass eines Tages jemand dasselbe für Sie tun könnte.»

Andere Länder, andere Sitten

Amerikaner sind Profis in Sachen freundliches Verhalten und Künstler der kleinen Gesten. Davon können wir uns eine Scheibe abschneiden. Mit einem fröhlichen «Hi, I like your style» beim Vorbeigehen auf der Strasse oder einem sympathischen «You look great today» beim Bedienen an der Bar schaffen sie sofort eine positive Atmosphäre. Im Gespräch mit Fremden fühlt man sich in den USA schnell wie unter Freunden. Unsere Schweizer Kultur hingegen tut sich schwer mit solch spontanen und herzlichen Gesten der Freundlichkeit. Deshalb bleiben wir Schweizer lieber bei der höflich-distanzierten Interpretation von Freundlichkeit. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung in Form der «Höflichkeitstheorie»: Während Amerikaner die sogenannte positive Höflichkeit leben und Kommunikationsstrategien anwenden, die Freundlichkeit und gegenseitige Sympathie signalisieren, herrscht in der Schweiz die negative Höflichkeit vor, bei der man sich gegenseitig nicht unnötig stören will und deshalb eine zurückhaltende Gesprächskultur pflegt. Dies bestätigen auch verschiedene Umfragen, wonach ausländische Besucherinnen und Besucher uns Schweizerinnen und Schweizer als zurückhaltend, aber dennoch höflich und hilfsbereit erleben. Für Schweizer Spitzenplätze in den Freundlichkeitsrankings bräuchte es allerdings noch eine Prise mehr Spontaneität und Herzlichkeit.

Spontane Gesten mit grosser Wirkung

Die angelsächsische, aber auch die japanische Kultur sind bevorzugte Vorbilder für gelebte Freundlichkeit. Amerikaner, Briten, Neuseeländer oder Japaner praktizieren routiniert «Random Acts of Kindness». Diese «spontanen Gesten der Freundlichkeit» gegenüber anderen und sich selbst lassen sich leicht in den Alltag integrieren. Dabei geht es nicht um grosse Taten, sondern um viele kleine Dinge, die man ohne grossen Aufwand für andere und sich selbst tun kann. Und weil Freundlichkeit ansteckend ist, entsteht eine positive Kettenreaktion: Menschen, die eine spontane Geste der Freundlichkeit erfahren, werden diese ihrerseits weitergeben. So machen auch die kleinsten netten Taten einen Unterschied und tragen dazu bei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Was meint ihr zum Thema? (Wie) erlebt ihr freundliches Verhalten im Alltag? Wie freundlich seid ihr unterwegs?

Dieser Text ist erstmals als Titelgeschichte im Magazin active & live erschienen.

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