
Loslassen – ein Leben lang
Bereits als Kinder lernen wir, uns von Orten, Dingen, Träumen und Menschen zu verabschieden. Doch selbst wenn wir diesen Prozess immer wieder durchlaufen, bleibt er schmerzhaft und herausfordernd. Auch ich habe das Loslassen in vielen Facetten erlebt: Ich bin umgezogen, habe Jobs gewechselt, Haustiere verabschiedet, Beziehungen beendet und Träume begraben. Doch nichts hat mich so tief erschüttert wie der Verlust meines Vaters vor acht Jahren. Dieser Abschied hat mir nicht nur den Boden unter den Füssen weggezogen, sondern mich auch mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert.
Die Angst vor dem Verlust – ein ständiger Begleiter
Loslassen – ein Wort, das so leicht gesagt und doch so schwer gelebt ist. Es begleitet uns von klein auf, durchzieht unser Leben wie ein roter Faden und fordert uns immer wieder heraus.
Man sagt, dass Kinder im Kindergartenalter damit anfangen, sich Gedanken über den Tod der Eltern zu machen. Bei mir war das auch so. Ich hatte schon als Kind die ständige Angst, meine Eltern zu verlieren. Gross war jeden Tag die Erleichterung, als ich mittags vom Chindsgi nach Hause rannte, ins Haus stürmte und meine Mutter wie immer in der Küche am Herd stehen sah und kurz darauf mein Vater von der Arbeit zum Mittagessen nach Hause kam.
Mein Wunsch an Gott war: «Bitte lass sie so lange leben, bis ich achtzehn bin. Dann schaffe ich es schon irgendwie alleine.»
Ich wurde achtzehn, zwanzig und auch mehr, meine Verlustängste wurden aber nicht kleiner. Im Gegenteil. Die Beziehung zu meinen Eltern wurde mit den Jahren immer enger. Bei jedem meiner Lebensabschnitte waren sie dabei, immer haben sie mich begleitet, jeden Ausrutscher aufgefangen, jede erdenkliche Hilfe geboten und mir einfach nur immer Verständnis und Liebe entgegengebracht. Und nun wünschte ich mir von Gott: «Bitte, bitte, lass sie noch so lange leben, bis ich eine eigene Familie habe. Dann bin ich sicher stark genug, um ihren Verlust zu verkraften!» Doch irgendwann kam der Moment, den ich so sehr gefürchtet hatte: Mein Vater starb. Und obwohl ich längst erwachsen war und eine eigene Familie gegründet hatte, fühlte ich mich plötzlich wieder wie das kleine Mädchen von damals, das einfach nur Angst hatte, seine Eltern zu verlieren, und das über all diese Jahre alles andere als stark genug dafür geworden war.
Trauer in einer Gesellschaft des Funktionierens
Die Trauer um meinen Vater war lang und intensiv. Darüber zu sprechen, fiel mir immer schwerer. Unsere Gesellschaft scheint Trauer nur in begrenztem Mass zu akzeptieren: nicht zu viel, nicht zu lange. Wer weint, wird schnell als belastend empfunden. Aus Studien weiss man, dass tiefe Traurigkeit innerhalb von wenigen Minuten abfärbt. Die meisten Menschen wenden sich deshalb von tieftraurigen Menschen schnell ab und wünschen sich, dass deren Trauer schnell vorbeigeht. Von der Gesellschaft wird heute den Trauernden nur eine kurze Zeit zugestanden, bis erwartet wird, dass sie wieder «funktionieren».
Ständige Herausforderung
Ich habe gelernt: Trauer ist kein linearer Prozess. Und schon gar kein kurzer. Trauer kommt in Wellen – manchmal leise und fast schon sanft, manchmal überwältigend wie eine Flut – auch viele Jahre nach der Akutphase. Heute «funktioniere» ich wieder und mein Leben geht seinen normalen Lauf weiter. Ich bin in der Akzeptanzphase angekommen, doch sehe ich mich vor einer neuen Herausforderung: Loslassen bedeutet nicht nur, selektiv Abschied zu nehmen. Es bedeutet auch, anzuerkennen, dass ganz generell nichts im Leben bleibt – weder Menschen noch Dinge noch Momente – noch wir selbst. Heute stehe ich erneut vor Abschieden: Meine Kinder sind fast erwachsen und beginnen, ihre eigenen Wege zu gehen. Meine Mutter ist 91 Jahre alt – auch hier weiss ich, dass das Loslassen näher rückt. Gleichzeitig verabschiede ich mich als Frau in den Wechseljahren vom Bild der jungen Frau, die ich einmal war. Jeder dieser Prozesse fordert mich heraus und zeigt mir erneut: Loslassen ist keine Fähigkeit, die man irgendwann «beherrscht». Es bleibt eine Herausforderung – jedes Mal aufs Neue und erst recht im Alter.
Loslassen als Chance?
Und doch ist Loslassen mehr als nur Schmerz. Es bietet die Chance für Neues. Für mich bedeutet es jetzt, meine Beziehung zu meinen Kindern auf einer neuen Ebene zu gestalten, sie als eigenständige Menschen zu begleiten und nicht mehr nur als Mutter zu führen. Es gibt mir mehr Zeit für mich selbst, um mich neu zu entdecken und Träume oder Interessen zu verfolgen, die bisher keinen Platz hatten. Das immer näher rückende Loslassen meiner Mutter bereitet auch mich vor, die Endlichkeit des Lebens anzunehmen und bewusster im Hier und Jetzt zu leben. Und indem ich alte Rollenbilder loslasse – sei es das Bild der jungen Frau oder das Bedürfnis, immer stark sein zu müssen – kann ich mich von Erwartungen und Druck befreien, die mich lange begleitet haben. Das schafft Raum für mehr Selbstliebe. So gesehen lehrt mich jeder Abschied, dass Veränderungen nicht nur Verlust bedeuten, sondern auch eine Chance auf Wachstum, neue Perspektiven und ein bewussteres Leben sind.
Einatmen, ausatmen, weitergehen
Vielleicht liegt die wahre Kunst des Loslassens darin, nicht nur Abschied zu nehmen, sondern zugleich festzuhalten – an der Hoffnung auf das Gute, der Liebe zum Leben und der Zuversicht, dass jeder Abschied auch ein neuer Anfang sein kann. Denn letztlich geht es nicht darum, «einfach und schmerzfrei» loszulassen. Es geht darum, den Mut zu finden, es immer wieder zu versuchen – mit all unseren Ängsten und all unserer Stärke zugleich.
Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Loslassen gemacht?
Dieser Text ist erstmals als Titelgeschichte im Magazin active & live erschienen.
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