Vom Waffelstand zum Waffenstillstand – was der Krieg mit uns macht

Wie uns das Weltgeschehen prägt

Lust auf ein Experiment? Was versteht ihr unter folgenden Begriffen? «Heroin» – «Collagen» – «Konstanz». Habt ihr beim ersten Wort an Drogen gedacht, beim zweiten an Bildmontagen und beim dritten an die Stadt am Bodensee? Oder habt ihr den ersten Begriff als die weibliche Form von Held verstanden, den zweiten als Bindemittel, das gegen Falten wirkt, und den dritten als Synonym für Beständigkeit? Was sagt das nun über euch, über mich?

Krisen beeinflussen unsere Wahrnehmung

Homographe heissen diese Begriffe, die zwar dieselbe Schreibweise, aber aufgrund einer anderen Betonung eine andere Bedeutung haben. Je nachdem, wie unser Auge die Begriffe liest, unser Gehirn sie aufnimmt und mit unserer eigenen Situation in einen Kontext stellt, verstehen wir die Wörter anders. Sinniere ich am Alterungsprozess herum, erkenne ich bei «Collagen» das Wundermittel gegen Falten und denke dabei nicht an «Collagen», mit denen sich unsere Jungs im Fach Bildnerisches Gestalten beschäftigen. Besonders auffällig sind solche Wahrnehmungsunterschiede bei englischen Homographen wie «Band», «Bug» oder «Brand». Unsere Jungs lesen sie als Musikgruppe, Softwarefehler und Marke, während ich an Schnüre, Schiffsteile und Feuerausbrüche denke.

In diese Richtung geht ein Verleser, der mir kürzlich passiert ist. Dabei handelte es sich zwar nicht um ein Homograph, aber um ein ähnliches Phänomen, das zeigt, dass unser Gehirn Wörter erkennt, auch wenn die Buchstaben darin vertauscht sind. Das ist so, weil wir nicht «jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wrot als gzeans enkreenn» und dieses wiederum zu uns in einen Kontext stellen. Und so haben meine Augen und mein Gehirn aus dem Wort «Waffelstand», das ich kürzlich auf einem Bild auf Facebook sah, automatisch «Waffenstillstand» gemacht, was mir deutlich aufgezeigt hat, wie stark mich die aktuelle Situation nach wie vor belastet und in meinem Denken beeinflusst. Wer weiss, vielleicht ist es euch beim Lesen des Titels gleich ergangen?

mittwochs im Tagblatt der Stadt Zürich

Wie beeinflusst die aktuelle Lage eure Wahrnehmung, euer Denken?

Nachfolgend findet ihr ein weiterer, persönlicher Text:

Corona, Krise, Krieg