Bücher Medienkompetenz Podcast Schule, lesen & lernen

Vorlesen und lesen im Zeitalter der Digitalisierung

Lesen und Vorlesen im Zeitalter der Digitalisierung
Werbung in Zusammenarbeit mit Schweizer Vorlesetag

Analog oder digital? Entscheidend sind gute Lesekompetenzen

Unser medialer Alltag hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die Digitalisierung hat nicht nur einen Einfluss auf das, was wir lesen, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir – Eltern und Kinder – heute lesen. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unser Leseverhalten? Welche Lesekompetenzen benötigen unsere Kinder? Und wie können wir diese als Eltern fördern? Darüber haben wir im Rahmen des Schweizer Vorlesetags in einem sehr spannenden Gespräch mit Christine Tresch diskutiert, Verantwortliche für Literale Förderung beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJIM.

Christine Tresch studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie und arbeitete als Kultur- und Literaturredaktorin für Printmedien und Radio SRF. Seit 2003 ist sie am Schweizerischen ­Institut für Kinder- und Jugend­medien SIKJM tätig, ­aktuell in den Bereichen Literale Förderung, Lehre und Kulturarbeit.

Liebe Christine, ist das traditionelle Lesenlernen aus Büchern im Zeitalter der Digitalisierung und der vielen Bilder, Emojis und rasanten Kurzvideos im Netz überhaupt noch wichtig?

In der Tat lernen Kinder das Lesen auch heute noch mittels Bücher. Das Lesen ist heute noch viel wichtiger geworden als noch vor zwanzig oder dreissig Jahren. Es gibt keinen Beruf, in dem man nicht gut lesen können muss. Auch bei den einfachsten Berufslehren muss man heutzutage Vieles am Computer lesen können. Und auch wenn wir sehr oft am Smartphone sind und da Bilder und Videos anschauen, so müssen wir im Netz auch immer wieder lesen.

Wenn Kinder und Jugendliche heute Bücher lesen, dann lesen sie gedruckte Bücher. Das Buch steht bei ihnen als Leseform immer noch im Zentrum. Das Lesen auf Ebooks macht bei Kindern und Jugendlichen nur 5 bis 8 Prozent aus. Sie lesen also nach wie vor Bücher. Doch anders als vor einigen Jahren, verbringen sie heute viel Zeit an ihren Handys. Diese Zeit geht anderen Freizeitaktivitäten – wie zum Beispiel dem Lesen – ab. Dennoch können wir nicht sagen, dass das literarische Lesen oder das Lesen von Sachbüchern in der heutigen Zeit ein Auslaufmodell sei.

Was ist das Besondere am Lesen eines Buches?

Aus der Leseförderung wissen wir, dass Kinder mit Büchern lesen lernen sollten und nicht am Bildschirm. Denn das Buch ist auch ein Objekt, das ich in die Hand nehmen und etwas Haptisches hat. Aus der neurologischen Forschung wissen wir, dass beim Lesen aus einem gedruckten Buch zusätzliche Hirnareale beteiligt sind als beim digitalen Lesen. So wird zum Beispiel das räumliche Denken gefördert, das wiederum hilft, Geschichten zu verstehen. Bücher sind zudem etwas Schönes, man kann sie halten, daran riechen, das Papier ist speziell, ein Buch funktioniert immer über Doppelseiten, insbesondere wenn diese Bilder enthalten. Viele Kinder- und Jugendbücher sind sehr schön aufgemacht. All diese Eigenheiten des Buches und die Erfahrungen beim Lesen können mittels EBook oder Tablet nicht nachgeahmt werden. Deshalb lieben Kinder das Lesen aus Büchern. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie es zu Hause aufstellen können und sehen, was sie schon alles gelesen haben.

Was ist das Spezielle am Lesen im Netz?

Wir müssen unterscheiden, ob wir ein Buch oder ein EBook lesen. Anders als wie ich vorgängig das Lesen aus einem Buch beschrieben habe, kann man sich in einem EBook schlecht orientieren, wo man sich in der Geschichte gerade befindet. Wenn man ein EBook liest, muss man über gute Lesefähigkeiten und Ausdauer verfügen. Lesen wir hingegen am Computer, zum Beispiel für einen Vortrag etwas sucht, begegnet man ganz anderen Texten. Dabei treffen wir auf viele Informationen, die aufpoppen – zum Beispiel Videos, Werbung, Audioinhalte. Dadurch tendieren wir, ständig zu zappen und uns weniger auf die Inhalte einzulassen, unsere Aufmerksamkeitsspanne ist deutlich geringer. Wir verlangen nach einem sofortigen Ergebnis. Erhalten wir das nicht, zappen wir weiter. Zudem sind die Textsorten sehr unterschiedlich. Im Unterschied zu einem erzählenden Text aus einem Buch, der mich durch die Geschichte mitnimmt, muss ich beim Lesen im Netz immer wieder selbst entscheiden, was für mich relevant ist und abklären, welche Informationen überhaupt stimmen. Beim Lesen eines langen erzählenden Textes in einem Buch ist das ganz anders.

Welche neuen Lesekompetenzen verlangt die Digitalisierung von unseren Kindern?

Die Voraussetzung für lustvolles literarisches Lesen sowie gutes Lesen von Informationen im Netz ist in beiden Fällen eine gute Lesekompetenz. Man muss gut und flüssig lesen können und verstehen, was man liest sowie darüber nachdenken können. Stolpert man über Wörter oder lange Sätze, funktioniert auch das Lesen im Netz nicht. Wenn wir literarisch lesen wollen, müssen wir uns in eine Welt einlassen können, die uns präsentiert wird. Bei der Netzlektüre braucht es ähnliche Kompetenzen wie bei einem Geschichtsstudium. Wir treffen auf Texte, von denen wir wissen müssen, woher sie stammen, wie kann ich die Quellen gegenchecken. Kinder müssen wissen, dass nicht immer alles stimmt, was sie im Netz finden und lesen. Zudem müssen wir uns im Netz immer wieder fragen, ob wir die Informationen überhaupt verstehen können. Anders als ein Buch enthält Netzlektüre keine Angaben über Textsorte oder Alterstauglichkeit. Im Netzt benötigen wir ein viel reflektierteres und kritisches Leseverhalten – das ist aus meiner Sicht eine der grössten Herausforderungen. Beim Lesen im Netz müssen wir unterscheiden können, was Fakten sind und was Meinungen.

Wie können wir Eltern unsere Kinder von klein auf begleiten und ihre Lesekompetenz fördern?

Vorlesen ist nur ein Aspekt der Leseförderung. Im Prinzip kann man sagen, dass die Leseförderung mit den ersten Lebensmonaten eines Kindes beginnt, indem wir mit kleinen Kindern einen reichen Sprachalltag pflegen. Wir können Versli oder Reimspiele einsetzen, bei denen auch kleine Kinder erfahren, wie Sprache tönt. Auch erste Pappbilderbücher machen Kinder neugierig auf Bilder und Sprache. Auf diese Weise lernen Kinder das Konzept Buch kennen und erfahren in einfachsten Geschichten, wie Wörter tönen und wofür sie eingesetzt werden und erweitern laufend ihren Wortschatz. Das ist die wichtigste Leseförderung.

Kinder, die zu Hause einen reichen Sprachalltag erleben dürfen, verfügen über viele Wörter, wissen, wie Sätze formuliert werden, haben viele Muster von Geschichten gehört und können dies alles einsetzen, wenn sie selbst ins Lesen und Schreiben kommen. Das ist gemäss Forschung die wichtigste Art von Leseförderung.

Das Schaffen einer Beziehung beim Vorlesen gilt auch als sehr wichtig – da sind wir als Eltern gefragt.

Genau. Ein Buch allein stellt noch keine Leseförderung dar. Es wird erst zur Leseförderung im Vorschulbereich, wenn da eine Person ist, die daraus vorliest, mit der man reden kann. Es braucht Gespräche, Dialog, Interesse von Bezugspersonen, welche die Motivation der Kinder fördern, einer Geschichte nachzugehen.

Wie können digitale Medien wie Tipp-Toi oder Toni Boxen in der Leseförderung eingesetzt werden?

Hörmedien, egal in welcher Form, stellen nichts anderes dar als früher Schallplatten, Kassetten oder CDs und spielen Geschichten vor, die Kinder oftmals immer und immer wieder hören. In diesen Zuhörsituationen lernen Kinder Wörter und nehmen wahr, wie Sprache tönt. Dies ist genauso unterstützend, wenn es später ums eigene Lesen und Schreiben geht. Wie immer macht ein möglichst bunter Mix aus analogen und digitalen Medien Sinn. Denn egal, ob analog oder digital: Eine gute Lesekompetenz bleibt die Voraussetzung dafür, dass sie dereinst genussvoll Literatur lesen, sich aber auch im Internet kritisch und reflektiert bewegen können.

Gibt es auch noch weitere Ansätze, Kinder ans Lesen heranzuführen?

Vorbild sein ist ganz wichtig! Indem wir als Eltern Zeitungen, Magazine oder Bücher lesen, Bibliothek besuchen oder in einen Buchladen gehen, leben wir unseren Kindern vor, wie schön und wichtig das Lesen ist. Genauso wichtig ist es, wenn wir uns als Eltern Interesse an den Geschichten zeigen, welche unsere Kinder lesen und dabei die Kinder wählen lassen, was sie gerne lesen möchten. Das eröffnet Möglichkeiten für gemeinsame Gespräche.

Kommt es darauf an, welche Art von Bücher Kinder lesen?

Solange Kinder und Jugendliche Bücher lesen, die für ihre Zielgruppe bestimmt sind, kommt es nicht darauf an, was sie lesen. Jede Form von Lesen ist Lesen. Diesbezüglich haben wir im deutschsprachigen Raum viel vom angelsächsischen Raum lernen müssen. Wir haben lange ein sehr elitäres Verständnis vom Lesen gehabt. Heute herrscht ein viel breiteres Verständnis vom Lesen, insbesondere im Freizeitlesen haben alle Textsorten ihre Berechtigung. Ein Buch, eine Geschichte muss vor allem Freude bereiten beim Lesen.

Was wünscht du dir persönlich in Bezug auf die Entwicklung des Vorlesens im Kleinkindalter?

Mit dem Schweizer Vorlesetag wollen wir einmal im Jahr alle darauf aufmerksam machen, dass Vorlesen etwas ganz Einfaches ist. Man muss das nicht lernen, sondern man schenkt den Kindern einfach Zeit. Leider wird die Bedeutung des Vorlesen von der Mehrheit der Bevölkerung nicht erkannt. Wir setzen uns auch dafür ein, dass sich Eltern gegenseitig empowern und ihren Kindern vorlesen und dass sich viele Väter mehr als Lesevorbilder zeigen. Auch wenn vermehrt Männer Schule geben, kommen Kinder ab der KITA immer noch hauptsächlich mit lesenden Frauen in Kontakt

Vielen Dank, liebe Christine, für dieses spannende und aufschlussreiche Gespräch rund ums Vorlesen und Lesen im Zeitalter der Digitalisierung. Mit deinem Engagement beim SIKJM leistest du wichtige Aufklärungs- und Motivationsarbeit. Wir wünschen dir weiterhin viel Erfolg und vor allem ganz viel Freude bei deinem Tun!

Nachfolgend könnt ihr das interessante Gespräch mit Christine Tresch in einer ausführlicheren Variante auch als Podcast hören!

Hat euch dieser Beitrag gefallen? Ihr könnt ihn auf Pinterest pinnen und ihn zu einem späteren Zeitpunkt (wieder) lesen – hier ist euer Pin:

Fragt ihr euch, wie es ums Vorlesen und Lesen steht, wenn man mit der Familie für ein paar Jahre ins Ausland zieht? Dann lest auch den Artikel von Eliane vom wunderbaren Buchblog Mint und Malve. Eliane erzählt über ihre Erfahrungen mit Büchern, dem Vorlesen und Lesen in den USA – ein sehr spannender und lesenswerter Beitrag!

Als Schweizer Familienblog setzen wir uns seit Jahren für den Schweizer Vorlesetag ein – eine Initiative des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Werdet auch Teil des Schweizer Vorlesetags – sei es bei euch zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im Verein oder als öffentliche Vorleseveranstaltung. Unter allen, welche eine Vorleseaktion eintragen, werden fünf Bücherpakete verlost!

Weitere spannende Beiträge, die wir rund um das Thema „Lesen“ verfasst haben, findet ihr nachfolgend:

Dies koennte dir ebenfalls gefallen

Keine Kommentare

    Hinterlasse eine Nachricht

    Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.