Ironie des Schicksals
Kennt ihr das Geräusch einer Weidezaunanlage, wenn man sich in der Nähe des Weidezaungeräts befindet? Oder wisst ihr, wie die alten Röhrenfernseher tönten, wenn man sich ihnen näherte? Auch das Ultraschall-Reinigungsgerät beim Optiker macht ein solches Geräusch. Und das Hörgerät meines Vaters gab genau denselben unangenehmen Ton von sich, wenn es nicht optimal eingestellt war und es zu Rückkoppelungen kam. Wie oft hatte ich mich über dieses unerträgliche Fiepen genervt und meinen Vater auch gescholten, sein Gerät nicht im Griff zu haben. Ironie des Schicksals – genau so einen Ton habe ich nun seit zwei Jahren in meinem eigenen Ohr. Es ist kein Pfeifen oder Rauschen, sondern ein hohes, elektrisches Fiepen, das mich Tag und Nacht begleitet und das sich als anhaltender, chronischer Tinnitus bei mir im Kopf festgesetzt hat.
Ein Ohrgeräusch aus dem Nichts
Aufgefallen ist mir der Ton vor zwei Jahren erstmals an einem Abend beim Fernsehen. War das Gerät etwas zu laut eingestellt? Oder wollte es den Geist aufgeben? Oder war es vielleicht doch die Stehlampe neben mir, deren Glühbirne genau auf der Höhe meines Ohrs lag? Ich konnte die Quelle für das unangenehme Fiepen nicht orten und versuchte, den Ton ein paar Abende lang zu überhören. Doch plötzlich war er immer und überall da – morgens in der Küche, tagsüber an meinem Arbeitsplatz, sogar draussen und auch nachts im Bett.
Meine allmählich auftretenden Sorgen behielt ich ein paar weitere Tage für mich. Doch als sich schleichend Angst breit machte, weil mir das Geräusch stets omnipräsenter und lauter vorkam, redete ich mit meinem Mann darüber, der selber seit Jugendjahren von Tinnitus betroffen ist. Er riet mir, sofort zum Arzt zu gehen und meine Wahrnehmungen abklären zu lassen.
Nur Stress als Ursache für Tinnitus?
Nach einem allgemeinen medizinischen Check, der nichts Aussergewöhnliches ergab, erklärte mir der Arzt, dass es sich bei meinem Ohrgeräusch vermutlich um ein Stress bedingtes Symptom handle. Mit dem Ratschlag, mich etwas zu schonen und einer Packung Tebokan – ein pflanzliches Heilmittel – entliess er mich nach Hause.
Bestimmt hatte ich Stress. Ich hatte erst ein paar Monate zuvor meinen Vater verloren, was mich vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Nicht nur die grenzenlose Trauer hatte an meinen Ressourcen gezehrt, sondern auch alle damit verbundenen organisatorischen und administrativen Tätigkeiten. Bestimmt zeigte ich körperliche Symptome von chronischem Stress wie Erschöpfung und Verspannungen – damals begann auch meine Leidensgeschichte mit einem Impingement Syndrom, einem äusserst schmerzhaften Schulterengpass. Bestimmt haben diese Umstände das plötzliche Auftreten dieses Ohrgeräusches begünstigt. Doch ist es wirklich nur immer Stress, wenn eine Frau mit einer diffusen Krankheit konfrontiert wird? Ist es wirklich immer so einfach? Ich war nicht zufrieden mit der Diagnose. Nicht nur, weil ich mich im verbreiteten Bild von ständig gestressten, Burnout gefährdeten und hysterischen Frauen, die immer Migräne, Krämpfe, Schwindel oder eben Tinnitus haben und denen man am besten Baldrian oder Johanniskraut verabreicht, nicht wiedererkenne, sondern weil ich für dieses Ohrgeräusch auch andere, handfestere Ursachen vermutete.
Das Alter als Risikofaktor für Ohrgeräusche
Akute Ohrgeräusche sind ein häufiges Phänomen. Schätzungsweise 15% der Schweizer Bevölkerung – gegen eine Million Menschen – sind in irgendeiner Form vorübergehend oder dauerhaft von Tinnitus betroffen. Ein chronischer Tinnitus, also anhaltende Ohrgeräusche, kommt dagegen seltener vor. Er kann in jedem Lebensalter auftreten und betrifft rund 4% aller Erwachsenen. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Es gibt unzählige mögliche Ursachen für Tinnitus. Die ständig steigende Lärmbelastung und Stress können das Risiko erhöhen. Aber auch das Alter. Das Risiko, Tinnitus zu bekommen, erhöht sich bei Frauen und Männern zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Rund 10% der Schweizer haben ein chronisches Geräusch im Ohr.
Der Besuch beim Hals-Ohren-Arzt hat in meinem Fall ergeben, dass ich einen altersbedingten hochfrequenten Hörverlust aufweise, der möglicherweise als Triggermechanismus funktioniert. Mein Gehirn versucht vermutlich, die Hörstörung zu kompensieren, indem es die verlorenen Töne selber produziert. Dies verursacht ein Rauschen der Nervenzellen, das ich als lästiges Fiepen wahrnehme.
Schwindel und Hyperakusis
Weitere Faktoren, die meinen Tinnitus begünstigt oder verursacht haben könnten, sind meine Schwindelanfälligkeit und meine Hyperakusis. Seit der Geburt unseres Jüngeren leide ich an Schwindelattacken. Auch diese diffuse Krankheit wurde übrigens rasch einmal als „typisch Frau und stressbedingt“ abgetan… Und seit eh und je bin ich zudem empfindlich gegenüber vielen Geräuschen, die für andere Menschen nicht als unangenehm empfunden werden. Dieses Phänomen nennt sich Hyperakusis und tritt bei der Hälfte der Tinnitus-Betroffenen auf. Zwar ist weder der Tinnitus die Ursache für die Geräuschüberempfindlichkeit noch die Geräuschüberempfindlichkeit die Ursache für den Tinnitus, aber beide Symptome können sich aus der gleichen Schädigung im Hörsystem entwickeln und dann einzeln oder gemeinsam auftreten.
Elektrosmog und Tinnitus
Wenn ich auf mein Bauchgefühl höre, so vermute ich in meinem Fall eine Prädisposition für Tinnitus (Stress, Alter, Schwindel, Hyperakusis). Doch der eigentliche Auslöser könnte schlussendlich in einer Elektrosmog-Überlastung liegen. Die heutzutage multiple Strahlung von Gebäuden, Geräten, Antennen und Sendern kann das Gehör beeinflussen bzw. schädigen. Eine umfangreiche Untersuchung unseres Hauses hat punktuell eine sehr hohe Elektrosmogüberlastung ergeben. Nicht zuletzt an Stellen im Haus, wo ich mich häufig und gerne aufgehalten habe, zum Beispiel ausgerechnet in der Ecke auf dem Sofa gegenüber dem Fernseher und direkt neben der Stehlampe, wo mir der Tinnitus erstmals aufgefallen ist. Aber auch im Schlafzimmer, wo sich mein Körper und Geist Nacht für Nacht hätten eigentlich erholen sollen… Eine umfangreiche Elektrosmog-Sanierung unseres Hauses haben wir unterdessen durchgeführt. Auch wenn dies für meinen Tinnitus zu spät erfolgt ist, so sind wir dennoch froh, diesen Aufwand zugunsten von unserem Allgemeinbefinden getätigt zu haben – nur schon der Kinder wegen.
Abklärungen als Spiessrutenlauf
Nach der ausführlichen Abklärung beim Hals-Nasen-Ohrenart absolvierte ich verschiedene medikamentöse Therapien, u.a. mit Kortison, Theophyllin, Sibelium, Betahistin und Ginko. Doch das Ohrengeräusch blieb. Um andere, möglicherweise gravierende Ursachen auszuschliessen, wie zum Beispiel Kleinhirnbrückenwinkeltumore, haben mir Hausarzt und HNO empfohlen, ein MRI des Schädels und der Halswirbelsäule zu machen. Der Befund ergab keine Auffälligkeiten in den vermuteten Bereichen, dafür ein neuer Verdacht: eine Gefässverengung in einem Gefässast der Aorta. Zur Absicherung der Diagnose wurde mir eine CT-Angiographie empfohlen. Computertomographisch konnte dann aber erfreulicherweise keine Stenose bestätigt werden.
Tinnitus – weder Diagnose noch Therapie
Nach diesem Spiessrutenlauf und den vielen Ängsten, die mit jeder Untersuchung neu geschürt wurden, fand ich mich zurück am Anfang: mit einem Ohrgeräusch, ohne Diagnose und ohne Therapie. Nun galt es, einen Entscheid zu fällen: Weiter nach Ursachen und möglichen Therapien suchen oder den Tinnitus langsam aber sicher akzeptieren und den Umgang mit ihm erlernen? Ich entschied mich für die zweite Option, doch eine letzte Abklärung wollte ich noch machen. Auf Empfehlung des HNO besuchte ich noch die Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie am Unispital Zürich, mit dem Ziel, heraus zu finden, ob und welche Strategien mir dabei helfen könnten, mit dem Tinnitus umzugehen.
Mit Tinnitus leben lernen
Die Abklärung beinhaltete das Ausfüllen eines Fragebogens, dem sogenannten Tinnitus Handicap Inventory, der die Einschränkung des Lebens durch den Tinnitus mittels Schweregrade von leicht bis unerträglich identifiziert. Dabei habe ich einen Score-Wert von 12 von maximal möglichen 100 erzielt. Dies bedeutet ein Schweregrad 1, was einem gut kompensierten Tinnitus entspricht. Leider haben nicht alle so viel Glück wie ich: Etwa die Hälfte der Betroffenen fühlt sich durch den Tinnitus stark beeinträchtigt. Aufgrund meines guten Wertes fand der Klinikarzt, dass für mich im Moment keine spezifische Retraining-Therapie erforderlich sei. Bei einer sehr geringen Tinnitusbelastung sei es eher nicht indiziert, aufwändige Therapien durchzuführen. Die Konzentration auf das Geräusch, die bei Therapien immer wieder verlangt wird, sei eher kontraproduktiv.
Tinnitus – Begleiter für den Rest meines Lebens
So wie es bei mir aussieht, werde ich den Tinnitus nie wieder vollständig loswerden. Deshalb muss ich lernen, mit dem Ohrgeräusch zu leben. Ich muss die Faktoren, die meine Ohrgeräusche verstärken, kennen und wenn möglich vermeiden bzw. so oft wie möglich Dinge unternehmen, die mir gut tun. In meinem Fall sind dies ganz einfache Sachen, wie etwas mehr schlafen, mehr Ruhepausen, viel Bewegung an der frischen Luft, eine Yoga-Stunde oder ein Saunabesuch.
Galgenhumor und Fantasie helfen
Mein Tinnitus ist immer da. Manchmal ist er wirklich sehr laut. Doch ich habe keine Angst vor ihm. Ich versuche, ihn auf die Seite zu stellen, ihn nicht zu beachten, weil ich weiss, dass ich ihn sehr oft auch nicht wirklich höre. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass er mich für immer begleiten wird. Manchmal denke ich sogar, dass mir mein verstorbener Vater diesen Ton ins Ohr gesetzt hat. Vielleicht als Retourkutsche dafür, dass ich mich über das Pfeifen seines Hörgeräts geärgert habe. Oder aber, weil er mir etwas sagen will, weil er eine Möglichkeit gefunden hat, bei mir zu sein, mich zu begleiten. Und genau so will ich jetzt diesen Tinnitus betrachten – als meinen ständigen Begleiter, der mir vielleicht auch nur helfen will, besser auf mich selber zu hören. Ich habe keine andere Wahl, damit umzugehen als mit etwas Galgenhumor und mit viel Fantasie.
Sorge um die Zukunft und um meine Jungs
Einzig zwei Dinge machen mir manchmal Angst: Was, wenn der Ton lauter werden sollte? Und was, wenn meine Jungs einen Tinnitus bekommen? Da die Lärm- und Elektrosmogbelastung ganz allgemein zunimmt, tritt Tinnitus mittlerweile verstärkt auch bei jungen Menschen auf. In der Schweiz steigt der Anteil der Jungen mit Höreinbussen seit Jahren stark an. Doch diese Gedanken schiebe ich vorerst einfach weg.
Tinnitus – was tun?
Beim Auftreten eigenartiger Geräusche empfehle ich einerseits die Sache ernst zu nehmen und sofort den Arzt aufzusuchen. Andererseits sollte man aber auch versuchen, Ruhe zu bewahren. Das ist das A und O beim Tinnitus. Während der notwendigen ärztlichen Abklärungen läuft man leider Gefahr, in einen nervenaufreibenden und auch Angst machenden Spiessrutenlauf zu geraten, der einen von Pontius zu Pilatus führt. Doch die Abklärungen sind wichtig, um die möglichen Ursachen für den Tinnitus zu finden oder zumindest um gravierende andere Ursachen auszuschliessen. Je nach dem kommen verschiedene Therapieansätze in Frage. Ich denke, dass es gut ist, einiges auszuprobieren, auch für Neues offen zu sein.
Sollte sich der Tinnitus als chronisch heraus stellen, so finde ich es wichtig, dass man sich wenn immer möglich mit der Diagnose anfreunden lernt und Strategien entwickelt, um mit dem Ton im Ohr zu leben. Es gibt leider kein Allheilmittel, jede betroffene Person muss für sich selber herausfinden, was ihr gut tut: mehr Ruhe, mehr Aufenthalte in der Natur, Musik, Menschen um einen herum haben, die einen ablenken, weniger Elektrosmog u.v.m. Irgendwann sollte der Tinnitus nicht mehr Zentrum aller Gedanken sein, sonst bekommt er eine viel zu grosse Bedeutung und wird dadurch immer lauter und omnipräsenter. Irgendwann ist es besser, sich nicht mehr ständig zu überlegen, wie man ihn wieder losbekommt, sondern ihn einfach zu akzeptieren. Dann wird er automatisch etwas leiser und erträglicher. Mir ist bewusst, dass der Tinnitus verschiedene Ausprägungen haben kann und andere Betroffene mehr Mühe haben, damit zu leben. In diesem Fall ist es wichtig, sich Hilfe zu holen.
Chance Neurofeedback?
Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen geht man heute davon aus, dass die für den Tinnitus verantwortlichen fehlgeleiteten Anpassungen im Gehirn wieder verlernt
werden könnten. Abhilfe schaffen könnte eine Methode, die auch gegen Migräne angewandt wird: das Neurofeedback. Diese Methode wird im Rahmen eines Pilotprojekts am Unispitals Zürich angewandt. Eindeutige wissenschaftliche Beweise fehlen bisher noch.
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6 Kommentare
Jie
18. Januar 2020 at 08:07Toller Bericht! Ich leide seit einer Erkältung letzten November an ständigem Tinnitus. Nehme ein Ginko-Medikament, da der HNO-Arzt meint, dass mein Hören nicht gemindert ist und Kortison nicht nötig ist. Dir alles Gute!
Sascha
19. Januar 2020 at 08:21Man sagt, dass Stress einen Tinitus auslösen kann. Stress führt aber auch oft zu Verspannungen und vielleicht sind es diese Verspannungen im Schulter und Halsbereich, welche den Tinitus auslösen. Und solche Verspannungen kommen nicht nur von übermässigem Stress.
Arbeitest Du oft am Computer?
Gegend diffuse Auslöser wie Stress oder Ängste kann man nur diffus vorgehen. Gegen Verspannungen kann man konkret vorgehen, Chiropraktiker, Physio, Übungen und …. konsequent korrekte Haltung am Computer. Vor allem der letzte Punkt ist alles andere wie einfach, aber konkret.
Damit will ich nicht sagen, dass jeder Tinitus auf Verspannungen zurück zu führen ist, aber es ist ein möglicher Auslöser, der von HNO Ärzten leider nur selten beachtet wird.
PS: ich bin Informatiker und kein Arzt
Rita Angelone
19. Januar 2020 at 13:02Lieber Sascha, dank für deine Rückmeldung. Genau so bin ich vorgegangen – ich bin 1 1/2 Jahre in die Physio gegangen. Die Verspannungen sind gelöst, der Tinnitus ist leider geblieben. Aber ich gebe dir absolut recht: dieser Aspekt wird häufig vernachlässigt! Nochmals danke und liebe Grüsse! Rita
James Ursula
17. Februar 2020 at 10:37Liebe Rita ich habe mich angemeldet für Dienstag, 3.3.2020 für den Vortrag Tinnitus im Unispital.
Nun bin ich leider verhindert und sollte mich abmelden (Enkel hüten) Wo kann ich mich abmelden? Uebrigens lese ich im Tagblatt immer die Spalte und bin ganz begeistert. Grosses Kompliment. Du redest so natürlich von den Alltagsthemen. Liebe Grüsse Ursula
Rita Angelone
17. Februar 2020 at 10:58Liebe Ursula, danke für deine Nachricht. Das ist sehr schade, dass du nicht kommen kannst… 🙁 Doch ich kann natürlich nachvollziehen, dass das Enkel-Hüten Vorrang hat. Das ist doch super und gut so. Ich werde deine Abmeldung weiterleiten, kein Problem. Danke vielmals für deine lieben Worte zu meiner Kolumne – das freut mich sehr.
Ich wünsche dir alles Liebe und viel Freude mit dem Enkel und grüsse dich ganz herzlich! Rita
Fio12
29. April 2020 at 10:33Toller Artikel! Ich hatte auch eine Zeitlang ein piepen im Ohr und dachte schon ich bräuchte Hörgeräte. Es ist dann aber auch wieder verschwunden. Schön zu lesen, dass man mit so einem Fall auch lernen kann umzugehen.