Ich war im 2. Kindergarten, als mich meine Eltern eines morgens zum allerersten Mal alleine zurück liessen und mir – die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal alleine zum Kindergarten gelaufen war – ans Herz legten, so lange zu warten, bis der grosse Zeiger auf der Zehn war und dann zügig zum Kindergarten zu marschieren. Selber machten sie sich zusammen mit meiner kleinen Schwester Richtung Kantonsspital auf, wo sich meine Mutter einer heiklen Untersuchung unterziehen musste, zu welcher mein Vater sie unbedingt begleiten wollte. Ich blieb zurück- traurig und verängstigt.
Oft denke ich an diese für mich traumatische Episode zurück, in welcher ich mich nicht nur vom Rest der Familie so ausgeschlossen fühlte, sondern vor allem Angst hatte, diesen ersten kleinen Schritt Richtung Selbständigkeit so ganz ohne Vorankündigung und ohne es jemals zuvor geübt zu haben, tätigen zu müssen.
Letzte Woche hat sich die Geschichte – wie so manche Familiengeschichte bisher – wiederholt: Unser Kleiner musste sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen, zu welchem das Familienoberhaupt und ich ihn gemeinsam begleiten wollten. Genau wie für meine Eltern damals, war es auch für uns klar, dass der Grosse nicht mitzukommen brauchte, dass er den Tag zwischen Kindergarten, Hort und Musikschule alleine meistern konnte. Doch anders als ich damals, war er ganz und gar nicht traurig und schon gar nicht verängstigt, dass er an diesem Tag auf sich selbst gestellt sein würde. Im Gegenteil: es machte ihn stolz, uns beweisen zu können, dass wir uns auf ihn verlassen können, dass er doch längst gross genug sei dafür.
Ob das die Früchte einer für meine Eltern manchmal „zu schweizerischen“, aber offenbar doch nicht ganz so falschen Erziehung zu selbständigen Menschlein sind? Wir wollen es jedenfalls glauben!
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13 Kommentare
Nicole
14. November 2012 at 09:21Hui, Rita, deine Eltern haben dich offenbar zu lange nicht selbständig werden lassen und dann notgedrungen ins kalte Wasser geworfen…. Meine Eltern haben mich gut herangeführt an die Selbständigkeit, haben mir Schritt für Schritt Dinge zugetraut, und so gibt es in meiner Erinnerung da gar kein „erstes Mal“. Bei unseren Kindern versuchen wir es auch so zu handhaben, und Nando hat deswegen auch früh schon den Kindergartenweg alleine bewältigt und ist mittlerweile jeweils am Donnerstag sogar ca. 10 Minuten alleine zuhause, nachdem er alleine vom Hort heimgelaufen und ins Haus gegangen ist. Er geniesst das und hat dann auch meinen „Kontrollanruf“ letzte Woche sehr erstaunt zur Kenntnis genommen… 😉
Rita Angelone
14. November 2012 at 09:35@Nicole: Ja, vorallem meine Mutter hat uns zu stark bemuttert und an diesem Tag sahen sie wie keinen anderen Ausweg und warfen mich wie du sagst ins kalte Wasser. Das war nicht gut.
Das mit dem kurz alleine sein, das möchte ich mit dem Grossen auch einführen. Und mal alleine ins Haus gehen. Und das Telefonieren ist für mich auch ein Thema. Dass er z.B. von einem Telefon aus mich oder das FOH anrufen kann. Oder ist das zu früh?
Fabienne
14. November 2012 at 09:49bei mir hat es auch geändert, als die grosse Telefonieren gelernt hatte. Ab dem Kiga war sie auch ab und zu für 10min alleine und jetzt kommt sie von der Schule heim, isst zvieri und muss dann in die Musikschule. Für sie ist es auch überhaupt nicht traumatisch, sie ist auch sehr stolz und möchte am liebsten immer alleine heimkommen 🙂
Lisa
14. November 2012 at 10:39Ich selber kann mich auch an keine Episode erinnern, obwohl ich auch sehr behütet aufgewachsen bin und vielen gar nie durfte. Wahrscheinlich war ich schon ziemlich „gross“ als ich mal alleine was durfte, dass es einfach selbstverständlich war.
Und obwohl unsere Kinder auch sehr behütet von mir aufgewachsen sind, hab ich ihnen immer die Freiheiten gelassen. Alleine zum Bäcker oder in die Bibliothek, war immer ein grosses Erlebnis.
Nun ist es bei unserer Jüngsten (5) auch ein bisschen so, dass ich ihr nicht zu viel zumuten kann und will. Sie mag noch nicht alleine zu Hause bleiben. Aber sie geht alleine in den Kiga und kommt auch alleine nach Hause und als sie vor ein paar Wochen alleine in die Bibliothek durfte hat sie, als sie wieder heimkam, übers ganze Gesicht gestrahlt. Und das weil ihr die Bibliothekarinnen gesagt haben, dass sie schon eine Grosse sei, weil sie alleine dahin durfte. Und nicht nur die zwei Damen haben sie gelobt sondern auch andere Erwachsene, die sie dabei beobachtet hatten, wie sie den Weg von ca. 300 m alleine ging.
Ins kalte Wasser werfen mag ich sie nicht, aber mich ganz langsam herantasten und lernen wieder los zu lassen, fällt mir nicht mehr soooo schwer.
Nadja
14. November 2012 at 21:46ich wurde sehr sehr selbständig erzogen 😉 da ich nach einem Jahr Kiga schon in die Schule musste (hab die Jungs geplagt…) und somit mit dem Bus in das nächste Dorf fahren musste, lernte ich doch recht schnell den ÖV klar zu kommen. Meine Mutter hat mich meines wissens nur 1-2x begleitet und danach durfte ich alleine gehen. OK es waren noch Kids da wo wir kannten aber trotzdem… Dann bekam ich so mit 10 ne Spange für diese musste ich teilweise fast wöchentlich ins Zahnärztliche Institut mit dem ÖV….. und irgendwann ging ich dann ganz alleine 😀
mein 4 1/2 Jähriger wollte letzthin nicht mit mir ins Dorf kommen und er meinte ich solle doch alleine gehen und er spiele in dieser Zeit etwas in seinem Zimmer. Ich musste lachen und hab ihm dann gesagt das er doch noch etwas zu klein ist um jetzt schon ne gute halbe Stunde alleine zu sein im Haus….
Im den Sommerferien waren wir in einem kleinem Walliser Dorf und er wollte immer den Güselsack alleine zum Container bringen. Das durfte er auch und er kam mächtig stolz zurück!
Falls er also im Winter auf die Idee käme uns am Morgen vom Beck die Gipfeli zu bringen hätten wir glaubs nix dagegen 😉 wäre wieder das selbe kleine Walliser Dorf und man kennt ihn dort schon etwas….hahahaha war nur Spass! das würde ich glaubs noch nicht erlauben…
aber ich sehe schon liebe Rita dein grosser geniesst es richtig! cool oder?
Nadja
14. November 2012 at 21:48ach ja und der Container war doch 200-300m oder so weg vom Haus und von unserer Wohnung nicht einsehbar…. mein Mann ist ihm natürlich so gut wie möglich gefolgt…. weil vorallem er ein mullmiges gefühl hatte 🙂
Rita Angelone
15. November 2012 at 09:54@Nadja: … schon gut, Nadja, wir wissen, dass Ihr keine Rabeneltern seid 🙂
Nicole
15. November 2012 at 11:12@Nadja: Fällt mir grad‘ ein: Nando war mit 4,5 schon mal eine halbe Stunde allein zuhause. Gleiche Situation wie bei euch. Hatte zwar schon ein komisches Gefühl, aber eigentlich muss ich auch sagen, dass ich keinerlei Bedenken habe, solange er wirklich alleine da ist. Zu zweit mit einem Freund ist es schwieriger, habe ich gemerkt, weil sie einfach gemeinsam auf dumme Gedanken kommen. Bei Carmen werde ich wohl länger warten, bis ich sie mal alleine lasse, denn sie hat so viel Unfug im Kopf, dass ich echt Angst hätte, dass was passieren könnte. Ok, sie ist jetzt ja erst 3 und wird sicher bald seeehr vernünftig…. 😉
@Lisa: Das finden die Kinder toll, gell, wenn sie so bewundert werden von Erwachsenen.
@Rita: Nando kennt meine Telefonnummer (mehr oder weniger). Ich habe ihm das versucht beizubringen, als wir mal unter vielen Leuten waren und ich grad‘ nichts zu Schreiben hatte (ich schreibe ihm sonst da jeweils die Nummer auf den Arm, wenn wir keinen Button dabei haben, auf dem meine Nummer steht). Und ich sage ihm immer, er solle einen Polizisten oder sonst eine Frau bitten, mich anzurufen. Hihi, und natürlich kam dann die Frage, warum er nicht einen Mann fragen könne…. Mmmh, musste grad‘ überlegen, wie ich das erklären solle, ohne gleich alle Männer als böse dastehen zu lassen…
Wie würde das denn bei euch laufen können mit dem Selber-ins-Haus-gehen? Wir haben eben eine gute Möglichkeit, den Schlüssel hinterlegen zu können (in der Garage, die mit einem Code gesichert ist, und den Code kennt Nando schon ewig, weil er ja jeweils selber sein Velo da rausholt….). Ich finde es eben noch heikel, einem so kleinen Kind den Schlüssel mitzugeben.
Bionic Hobbit
18. November 2012 at 22:58Rita, ist doch schön, wenn ihr den Kleinen zu zweit zu seiner Operation begleiten durftet! Damals, als ich 6 Jahre alt war, und mein Blinddarm geplatzt war, war ich einen Monat lang sehr sehr einsam im Kinderspital, und so ziemlich allein mit meinen Schmerzen und meinen Ängsten, den Schläuchen und Maschinen. Die Eltern durften zwar besuchen, kamen einmal am Tag, aber der Bruder durfte nicht rein. Keiner durfte damals mit mir im Zimmer übernachten.
Es hat sich heute schon einiges geändert.
Bionic Hobbit
18. November 2012 at 23:00@Nadja: vielleicht sind wir im gleichen Walliser Dorf in den Skiferien und er könnte uns auch grad die Gipfeli bringen??
Rita Angelone
19. November 2012 at 06:39@Bionic: das tönt ziemlich traurig, was du da als Kleine erleben musstest… 🙁
Lisa
19. November 2012 at 07:50Ich hatte letstens einen Traum und da kam mir ganz vieles wieder in den Sinn!!
Ja, ich hatte als Kind auch mal eine traumatische Episode. Mein Bruder und ich wurden für die Skischule in Braunwald angemeldet. Eines Morgens kam der Bus und wir wurden reingesetzt, ganz alleine. Das ging ja noch, weil wir zwei uns ja hatten. Doch in Braunwald wurden wir in zwei verschiedene Gruppen eingeteilt und ich sah meinen Bruder den ganzen Tag nicht mehr. War in Braunwald ausgeliefert, nicht mal nach Hause laufen hätte ich können. Das war so weit weg! Meine Skischulgruppe fand ich auch doof. Und der Clou kam, als ich mal hinfiel und es keiner bemerkte. Sie fuhren einfach davon und ich fing an zu weinen. Musste mich alleine wieder aufrappeln, meine Ski’s montieren und der verloren gegangenen Gruppe hinterher fahren.
Es war ein sehr, sehr einschneidendes Erlebnis für mich. Meine Kinder mussten nie in die Skischule. Wir haben ihnen das Skifahren selber beigebracht.
Und noch heute fahre ich mit einem unbehaglichen Gefühl in Braunwald Ski!
Rita Angelone
19. November 2012 at 14:16@Lisa: deine Geschichte liest sich ein bisschen wie eine Horrorgeschichte… 🙁 Solche Erinnerungen bleiben ein Leben lang – ich weiss.