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People of Colour und Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur
Bücher vermitteln Kindern und Jugendlichen ein Bild darüber, wo und wie sie sich in der Gesellschaft wiederfinden. Junge Leser:innen identifizieren sich mit den Held:innen der Geschichten. Finden sie sich selbst aber nur in den Nebenrollen oder gar nicht wieder, so fühlen sie sich anders, nicht dazu gehörig, diskriminiert. Die fehlende Darstellung von verschiedenen Kulturen, Schichten, Herkunftsländern, Religionen, Menschen mit Behinderungen, oder Liebes- und Lebensformen kann sich negativ auf die Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Weshalb es wichtig ist, dass People of Colour und Interkulturalität in Kinderbüchern dargestellt werden, genauso wie Diskriminierung, Rassismus, Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung und weitere Vielfaltskomponenten mehr, haben wir im Rahmen des Schweizer Vorlesetags mit Kinderbuchautorin Andrea Karimé in einem interessanten Gespräch ausgeleuchtet.
Andrea Karimé ist Deutsch-Libanesin, lebt in Köln und ist eine von noch ganz wenigen Autor:innen of Color, die für Kinder schreiben. Seit über 15 Jahren ist sie Kinderbuchautorin, Geschichtenerzählerin und Poesiepädagogin. Mit ihren Werken hat Andrea mehrere Kinder- und Jugendbuchpreise gewonnen. Gerade ist ihr Buch Planetenspatzen erschienen, ein Gedichtband mit Wörtern aus 13 Sprachen in Deutschland.
Liebe Andrea, Interkulturalität ist eines deiner Markenzeichnen, wieviel deiner eigenen Biografie spielt in deine Bücher mit rein?
Tatsächlich charakterisiert Interkulturalität vieler meiner Bücher. So wie bei jeder Autorin, bei jedem Autor fliessen auch bei mir meine eigenen Erfahrungen in meine Kinderbücher. Mein Vater stammt aus dem Libanon und kam in den 60er Jahren als Student nach Deutschland, wo er meine Mutter kennenlernte. So habe ich in meiner Kindheit erfahren, dass es in meiner Familie zwei Länder, zwei Kulturen, zwei Religionen und mehrere Sprachen gibt, die dazu gehören. Das ist sicher etwas, das in meinen Geschichten ganz automatisch immer wieder auftaucht. Zudem war ich im Sommer 1975 im Libanon, als der Krieg ausgebrochen ist. Das hat mich sehr geprägt und deshalb habe ich auch mehrere Bücher geschrieben, in denen Krieg und Flucht eine Rolle spielen. Aber auch die Liebe zu Wörtern aus vielen Sprachen ist immer wieder ein Thema – wie gerade in meinem aktuellen Buch „Planetenspatzen“.
Hast du als Kind bereits gemerkt, dass People of Colour, Flüchtlinge oder Migranten nicht genug repräsentiert sind in Kinder- und Jugendbüchern?
Als ich im Alter von 6 oder 7 Jahren damit begann, mir Bücher aus der Bibliothek auszuleihen, habe ich bald einmal gemerkt, dass keine Geschichten erzählt wurden, in denen Kinder wie ich vorkamen. Diese Erfahrung machte ich auch sonst – ich war oft die Einzige, die eine Familie hatte wie ich oder die so aussah wie mein Vater.
Was hat die fehlende Repräsentation bei dir ausgelöst?
Ich habe mich in Frage gestellt und dachte, dass ich nicht dazu gehöre. Da ich in Büchern nicht vorkam, hatte ich das Gefühl, irgendwie nicht berechtigt zu sein. Das löste sogar den Wunsch aus, blond sein zu wollen. Wie eine blonde Heldin oder eine blonde gute Fee.
Was kann fehlende Darstellung im Kindes- und Teenageralter ganz allgemein auslösen?
Kleinere Kinder nehmen das glücklicherweise nicht ganz so bewusst auf. Dennoch weiss man aus der Forschung, dass sich fehlende Repräsentation negativ auf das Selbstwertgefühl von Kindern auswirkt. Es gibt zum Beispiel einen Test, bei welchem man Schwarzen Kindern eine weisse und eine schwarze Puppe zeigt. Die meisten Schwarzen Kinder finden die weisse, blonde Puppe schön und die schwarze nicht. So kann sich fehlende Repräsentation ausdrücken. Bei Teenagern kann sich dies so auswirken, dass sie in Widerstand gehen, dass sie sich verbünden und auf sich aufmerksam machen.
Wie bist du damals selbst auf die passende Literatur gestossen? Hast du vielfältige Bücher gefunden?
Ich habe die fehlende Repräsentation leider als normal hingenommen und habe mich deshalb auch nicht bewusst auf die Suche nach vielfältiger Literatur machen können. Erst Anfang 20 bin ich mit den Übersetzungen einer syrischen Autorin aus dem arabischen Raum in Berührung gekommen, die über den Libanon geschrieben hat. Es war sehr bedeutsam für mich, dass eine arabische Frau ihre Geschichte schreibt. Plötzlich habe ich eine ganze Welt entdeckt, die zu mir gehört.
Vielfalt hat viele Facetten. Wie definierst du Diversität und wie setzt du sie in deinen Kinderbüchern um?
Für mich bedeutet Vielfalt Vielstimmigkeit. Also, dass Kinderbücher aus vielen verschiedenen Perspektiven – nicht nur aus der weissen – geschrieben, vorgelesen und beurteilt werden.
Was macht für dich eine gute vielstimmige Geschichte aus?
Grundsätzlich gibt es aus meiner Sicht nicht „das“ perfekte, vielfältige, alles repräsentierende Buch. Wie ich schon gesagt habe, ist es wichtiger, auf verschiedene Erzählstile sowie Autoren und Autorinnen zu setzen, so dass das Kind mit möglichst vielen verschiedenen Stimmen konfrontiert wird. Dabei reicht es aus meiner Sicht nicht, wenn zwar Kinder of Colour in Büchern dargestellt werden, allerdings nur als Nebenfiguren. Ich rede von vielen verschiedenen Geschichten mit vielen verschiedenen Heldinnen und Helden, die etwas Tolles erleben. So verstanden, kann ein Buch allein nicht alles leisten.
Deshalb brauchen wir die Unterstützung von vielen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, die gerne Kinderbücher schreiben. Nur so entsteht Vielstimmigkeit.
Und so sollte aus meiner Sicht das Kinderbuchregal zu Hause, in der Schule oder in der Kita ausgestaltet sein.
Wie finden wir gute Kinderbücher, die diese Themen korrekt aufnehmen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten sich zu informieren. Zum Beispiel schwarze Blogs, wie schwarzgelesen von Élodie Malanda. Oder My POC Bookshelf, den Bücherpodcast von Georgina Fakunmojud. Und es gibt den Hashtag #kidsbookwritersofcolour, über welchen man via Instagram Autor:innen of Colour findet. Verlage könnten solche einladen, doch das passiert leider noch zu wenig. Da besteht auf jeden Fall noch Nachholbedarf.
Gibt es eine Nachfrage nach solchen eher schweren Themen?
Es ist schade, dass man Vielfalt und Vielstimmigkeit häufig mit schweren Themen wie Krieg und Flucht verknüpft. Es gibt so viele andere Geschichten, die Autor:innen of Colour erzählen, sodass man sich nicht zwingend ständig mit schweren Themen beschäftigen muss.
Ich empfehle Eltern, Vielfalt nicht nur auf die Abbildung in einem einzelnen Buch zu verstehen, sondern darauf zu achten, dass die Kinder möglichst viele Erzählstile kennenlernen – mal Gedichte, mal Märchenhaftes, mal Realistisches – und vor allem die Stimmen möglichst vieler verschiedenen Autoren und Autorinnen hören beziehungsweise lesen. So verstehe ich Vielfalt. Und was den Kindern am Schluss gefällt, das entscheiden sie selbst.
Wie gelingt es dir, Themen wie Krieg und Flucht mit Munterkeit und Zuversicht zu vermitteln?
Das gelingt mir zum einen, indem ich keine Geschichten direkt über Krieg oder Flucht schreibe, sondern über die Abenteuer, die ein Kind erlebt. Auch stelle ich die Kinder nie als Opfer dar, sondern als starke Heldinnen und Helden, die mit verschiedenen Situationen – Krieg oder Flucht – umgehen können. Auf keinen Fall will ich Mitleid vermitteln, sondern vielmehr zeigen, dass Kinder zum Beispiel mit dem Ausbruch eines Krieges zurechtkommen müssen. Ich möchte keine hoffnungslosen Geschichten schreiben. Das würde Kindern nicht gerecht werden, denn sie haben die grossartige Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen die Hoffnung nicht zu verlieren und können somit auch Erwachsenen helfen. Das beeindruckt mich immer wieder.
Du magst es nicht so pädagogisch, wie du selbst sagst. Du magst es lieber, dass Kinderbücher Fragen aufwerfen, als dass sie solche beantworten. Was bedeutet das konkret? Und wer soll den Kindern die Fragen beantworten? Können das die Eltern?
Ich denke, dass Eltern nicht immer alles beantworten müssen. Ganz abgesehen davon, dass es Fragen gibt, die wir auch als Erwachsene nicht beantworten können. Mit der Fantasie, die ja eine Form des Denkens ist, können sich Kinder aber wichtige Aspekte selbst erschliessen. Oft stellen die Probleme, die wir in einem Buch zu erkennen glauben, für die Kinder überhaupt kein Problem dar. Kinder lesen Bücher anders als wir und deshalb können wir auch darauf vertrauen, dass ihre Art, etwas zu verstehen, genauso richtig ist.
Obwohl das Thema Vielfalt in der Kinderliteratur sehr aktuell ist, gibt es kaum Autoren oder Autorinnen of Colour, die Bücher schreiben. Weshalb ist das so?
Es gibt sie schon. Doch viele Autorinnen und Autoren of Colour machen Bücher im Selbstverlag, weil sie für ihre Themen keine Verlage finden beziehungsweise Verlage nicht direkt danach suchen. Da besteht schon noch Nachholbedarf. Genauso wie im Bereich der Illustrator:innen – um alles vielfältiger und vielstimmiger zu gestalten.
In deinem Buch „Planetenspatzen“ spielst du selbst mit 13 verschiedenen Sprachen. Verrätst du uns etwas mehr zu deinem neuen Werk?
Ich habe Kindergedichte geschrieben. Und jedes Gedicht ist eine Art Mini-Geschichte. Mal sind die Geschichten gereimt, mal nicht. Aber alle Gedichte haben gemeinsam, dass der Auslöser ein Wort der häufigsten Einwanderersprachen in Deutschland ist. Das Buch bietet einen spielerischen, kreativen und poetischen Zugang zu fremden Sprachen. Mit diesem Buchprojekt schliesse ich sozusagen den Kreis, wie ich als Kind die Wörter erlebt habe. Ich bin sehr gespannt, wie die Kinder darauf reagieren!
Vielen Dank, liebe Andrea, für diesen spannenden Exkurs in das wichtige Thema cer People of Colour und Interkulturalität in Kinderbüchern. Mit deinen Büchern leistest du wichtige Aufklärungsarbeit. Wir wünschen dir bei all deinem Tun weiterhin viel Erfolg und vor allem ganz viel Freude beim Schreiben deiner nächsten Kinderbücher!
Nachfolgend könnt ihr das interessante Gespräch mit Andrea Karimé in einer ausführlicheren Variante auch als Podcast hören!
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Im Rahmen des Schweizer Vorlesetags setzen wir uns mit einer Podcast-Trilogie für mehr Vielfalt in Kinderbüchern ein. Nebst dem Gespräch mit Kinderbuchautorin Andrea Karimé über People of Colour und interkulturelle Themen in Kinder- und Jugendbüchern, haben wir uns auch mit Buchbloggerin Eliane Fischer über die Wichtigkeit vielfältiger und klischeefreier Kinder- und Jugendbücher ausgetauscht und mit Josia Jourdan die Bedeutung von Diversity sowie LGBTQ+ in der Kinder- und Jugendliteratur ausgeleuchtet.
Zudem erfahrt ihr im Podcast-Gespräch mit Barbara Jakob, Verantwortliche für die literale Förderung beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien, alles über die Bedeutung des Vorlesens und Lesens mit Kindern:
Als Schweizer Familienblog setzen wir uns seit Jahren für den Schweizer Vorlesetag ein – eine Initiative des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Bis zum Vorlesetag am 18. Mai 2022 gibt es in regelmässigen Abständen Blogbeiträge aus dem Netzwerk Schweizer Familienblogs rund um das Thema Vorlesen. Mal berührend. Mal lustig. Mal informativ. Die Übersicht über alle teilnehmenden Blogs und deren Themen findet ihr auf der Webseite Schweizer Vorlesetag oder auch nachfolgend:
- Lieblingsbande: Krabat – leichter vorlesen – Buchklassiker als “Easy Readers”
- Mama kann das: Dialogisches Lesen
- Mamarocks: Globi- Yay or nay?
- Mint und Malve: Kinderbücher gegen Rassismus
- Switzerland Travel Family: Vorlesen mit Kindern im Kindergartenalter
Zudem findet am 18. Mai im Coworking Space Tadah ein Vorlesenachmittag mit Autor Alain Eicher statt, der aus seinem Buch Gian & Giacen vorliest!
Werdet auch Teil des Schweizer Vorlesetags – sei es bei euch zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im Verein oder als öffentliche Vorleseveranstaltung. Unter allen, welche eine Vorleseaktion eintragen, werden fünf Bücherpakete verlost!
Weitere spannende Beiträge zum Thema „Lesen“ findet ihr nachfolgend:
- Vielfältige Kinder- und Jugendbücher
- Diversity und LGBTQ+ in Kinder- und Jugendbüchern
- Kinder und Bücher – vom Vorlesen zur gemeinsamen Buchbesprechung
- Erebos – Buchrezension aus Sicht eines Jugendlichen
- 10 Jahre Vorlesen – Eine Erfolgsgeschichte für die ganze Familie
- Von Anfang an – Vorlesen und lesen mit kleinen Kindern
- Tastsinn und Lesen: Die erste Kommunikationsform des Kindes
- Lese- und Informationsgewohnheiten im Wandel
- Bücher machen Leute
- Leseförderung: Wie motiviert man Kinder zum Lesen?
- Lerngelegenheiten für Kinder bis 4 Jahre
- Sprich mit mir und hör mir zu!
- Keiner zu klein, ein Bücherwurm zu sein
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