Von einer harten Kindheit in Nordspanien über einen mutigen Sprung ins Ungewisse in einem fremden Land bis zu einem aktiven und erfüllten hohen Alter – Maria Luisas Lebensweg ist geprägt von Herausforderungen, Wendungen und der Kraft, sich stets neu zu erfinden.
Ich bin einfach in den Zug gestiegen und mit einer Freundin in die Schweiz gefahren. Von Bekannten, die das Unterfangen vor uns gewagt hatten, haben wir gehört, dass es da Arbeit gibt. Viel mehr wussten wir nicht. So naiv sind wir in das Abenteuer gestartet.
erinnert sich Maria Luisa (90), verdreht ihre Augen und schüttelt vielsagend den Kopf.
Die Tragweite ihrer Entscheidung ist Maria zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Die bald 30-Jährige will etwas anderes sehen als nur gerade den Bauernhof ihrer Eltern in einem kleinen Weiler in Nordspanien. Die Zweitjüngste von insgesamt neun Kindern sehnt sich nach einer «richtigen» Arbeit und der Chance, den ärmlichen Verhältnissen ihrer Grossfamilie und auch dem strengen Regime ihres Vaters zu entfliehen. «Auch wenn ich schöne Erinnerungen an meine Kindheit auf dem Hof habe, so bin ich schon in äusserst bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und musste viele Entbehrungen auf mich nehmen. Mein Vater war zudem sehr streng, und wir Kinder waren ständig in Arbeit eingebunden. Wenn wir Glück hatten, durften wir sonntags ein paar Stunden zum Tanz – allerdings nur, wenn alle Pflichten erledigt waren.»
Zwei Anfänge, ein Leben
Maria kommt im Sommer 1933 auf die Welt. Nach Aussage ihrer Mutter am 9. Juni. In ihren offiziellen Dokumenten steht allerdings 22. Juli. Der entfernte Wohnort ihrer Familie lässt die Registrierung im Geburtenverzeichnis der nächstgelegenen Stadt verzögern. «Damals nahm das niemand so genau mit den Daten. Hauptsache, das Kind kam gesund zur Welt. Mich haben die unterschiedlichen Geburtsdaten nie gestört. Ich habe ohnehin nie Geburtstagsfeste gefeiert – das mochte ich nie. Aber was ein Vorteil zweier Geburtstermine ist: Ich kann zwei verschiedene Horoskope lesen und mir jeweils das Beste aus beiden herauspicken», sagt sie und lacht schelmisch.
Gelandet in einer anderen Welt
Die Ankunft im tief verschneiten Glarnerland, wo die Textilindustrie gerade floriert und auf Arbeitskräfte angewiesen ist, stellt für Maria einen Schock dar: Die Schneemengen in jenem November erschrecken sie. Nicht verwunderlich, denn der Winter 1962 / 1963 war einer der strengsten des 20. Jahrhunderts. «Im ersten Moment dachte ich, ich sei am Ende der Welt angelangt. Ich hatte Angst, dass uns der Schnee lebendig begraben würde. Ich war in offenen Schuhen abgereist, fror mich fast zu Tode und wurde sogleich krank. Mit dem ersten bescheidenen Lohn, den ich verdiente, musste ich als Erstes warmes Schuhwerk und einen dicken Mantel kaufen.»
Vom Regen in die Traufe
Die Arbeit in der Textilfabrik gefällt ihr. Rasch erlernt sie den Umgang mit den grossen Maschinen und ist stolz, endlich eine «richtige» Arbeit zu haben. Weniger gut kann sie sich allerdings mit der anstrengenden Schichtarbeit und dem Leben im Kosthaus anfreunden. Hier wohnt sie zusammen mit all den jungen Frauen, die in der Fabrik arbeiten – auf engem Raum, mit wenig Privatsphäre und unter der Kontrolle des Fabrikbesitzers. «Dass wir im Kosthaus keinen Männerbesuch empfangen durften, war mir egal. Aber ich hatte meine Familie und meine Heimat unter anderem verlassen, um frei und selbstbestimmt zu leben. Die Regeln und die Kontrolle im Kosthaus bedrückten mich.»
Zwischen Heimweh, Verliebtheit und Bedenken
Der frostige Winter, die fremde Sprache, die unbekannte Kultur – Maria leidet anfänglich unter grossem Heimweh. Etwas Linderung bringt ihr das Tanzen, ihre grosse Leidenschaft, die sie bereits als junge Frau in Spanien all ihre Sorgen vergessen liess. Und ausgerechnet an einem Tanzanlass lernt Maria ihren zukünftigen Ehemann kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Dennoch lässt es Maria langsam angehen. «Antonio gefiel mir sehr. Aber er war Italiener. Und von ihnen sagte man, dass sie unerhörte Frauenhelden seien. Bevor es zu etwas Ernstem kommen sollte, wollte ich sicher sein, dass er ein seriöser Mann ist. Zudem fürchtete ich, dass sich unsere Vorstellungen in Bezug auf die Zukunft nicht decken würden. Ich war in die Schweiz gekommen, um ein paar Jahre lang etwas zu lernen, Neues zu erleben, etwas Geld zu verdienen und dann wieder nach Spanien zurückzukehren. Dieselbe Vorstellung hatte auch er. Wie sollte das aufgehen?»
Die Familie als Fundament
Es geht auf. Antonio ist nicht nur seriös, sondern verwirft die Idee einer Rückkehr nach Italien zugunsten eines Lebens mit Maria in der Schweiz. Schon bald heiraten sie, kaufen ein älteres Haus und gründen eine Familie, aus der zwei unterdessen längst erwachsene Töchter mit eigener Familie entspringen. «Meine Töchter und mein Mann waren für mich immer das Wichtigste. Alle meine Entscheide habe ich nach ihnen gerichtet. So habe ich aufgehört zu arbeiten, um unsere beiden Kinder selbst betreuen zu können. Ich habe es nie bereut, aber ich muss ehrlich gestehen, dass ich mit dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben auch etwas den Anschluss ans Schweizer Leben verpasst habe. Nach 60 Jahren in der Schweiz spreche ich leider sehr schlecht Deutsch.»
Neue Freiheiten, neue Horizonte
Die beiden Töchter wachsen schnell, machen beide die Matur und beruflich Karriere. Schon bald ziehen sie nach Zürich. Maria geniesst die neu erworbene Freiheit und steigt erneut ins Erwerbsleben ein. Sie freut sich, wieder ausser Haus arbeiten und mehr soziale Kontakte pflegen zu können. Obwohl die Pensionierung nicht mehr so weit entfernt ist, fühlt sie sich voller Energie und verfügt über einen immensen Tatendrang. «Ich war einfach glücklich und dankbar, dass meine Töchter ihren eigenen Weg eingeschlagen hatten und mein Mann und ich gesund waren. In jener Zeit besuchte ich mit Antonio sozusagen jedes Wochenende italienische Tanzveranstaltungen, und wir genossen die neue Zweisamkeit sehr. Das Tanzen war unsere gemeinsame Passion, die uns ein Leben lang verband und vital hielt. Damals begann ich sogar noch zu joggen und fuhr auch gerne mit dem Rennvelo – so fit und energiegeladen war ich!»
Neue Herzensaufgabe
Auf die Pensionierung freut sich die aktive und lebensfreudige Maria nicht unbedingt. Sie würde gerne noch viele Jahre so weitermachen wie bisher. «Plötzlich ging es mir zu schnell, die Zeit schien zu rasen», erzählt sie etwas melancholisch weiter. Doch dem neuen Zeitabschnitt gewinnt sie auch schöne Seiten ab. Zusammen mit Antonio teilt sie nun die Tage nach ihrem Gusto ein und kann tun und lassen, wie sie will. Langweilig wird es ihr nicht. Erst recht, weil sie schon bald in der Rolle als Nonna alle Hände voll zu tun hat. «Meine drei Enkel – drei Jungs, wohlgemerkt! – sind mein Ein und Alles. Ich geniesse heute noch, wo sie alle drei bereits Teenager sind, jeden einzelnen Moment, den ich mit ihnen zusammen verbringen kann. Als sie klein waren, versuchte ich, wo es ging, meine Töchter zu entlasten. Ich wäre selbst sehr froh gewesen, wenn mich meine Mutter hätte unterstützen können. Doch die grosse Distanz zu meiner Familie in Spanien verunmöglichte das.»
Aufbruch zum Zweiten
Maria bereut keinesfalls, in die Schweiz ausgewandert zu sein. Doch ihre Familie, die sie nach ihrem Weggang nur noch alle zwei Jahre kurz im Sommer besuchen kann, vermisst sie zeitlebens sehr. Die Nähe zu ihren Töchtern und ihren Enkeln ist ihr deshalb umso wichtiger. So überzeugt Maria ihren Mann, das Haus im Glarnerland zu verkaufen und nach Zürich in die Nähe der Töchter und der Enkelkinder zu ziehen. «Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits 80- jährig. Der Entscheid fiel uns nicht einfach, aber er war richtig. So konnten wir noch ein paar schöne Jahre alle zusammen in Zürich verbringen. Ich konnte meine Töchter noch besser unterstützen, die Enkel so oft sehen, wie ich wollte, und ich war nach dem Tod meines Mannes nicht allein in einem Haus im fernen Glarnerland.»
Loslassen und wieder neu starten
Antonios Tod – nur gerade vier Jahre nach dem Umzug nach Zürich – wirft Maria erstmals in ihrem Leben so richtig aus der Bahn. 51 Jahre sind sie verheiratet, als er an Krebs stirbt. Alles haben die beiden stets gemeinsam gemacht, nie war einer der beiden länger als ein paar Tage vom anderen getrennt. Ihre Töchter und ihre Enkelkinder sind Maria in diesen dunklen Stunden eine wichtige Stütze, dennoch braucht sie sehr viel Zeit, um sich allein zurechtzufinden. Die Pandemie erschwert den Prozess zusätzlich. Maria leidet unter der Isolationsphase und läuft Gefahr, in eine Depression zu schlittern. «Das war die härteste Zeit in meinem Leben. Mich in meinem bereits hohen Alter ganz allein zurechtfinden zu müssen, war sehr schwierig. Corona machte alles nur noch schlimmer. Doch ich habe es geschafft – dank der Hilfe meiner Töchter und dank meiner Willenskraft.»
Mitten im Leben
Stärke gepaart mit Energie zeichnet Maria definitiv aus. Und ihre Aufgeschlossenheit Neuem gegenüber. Sie, die ohne Elektrizität, geschweige Radio oder Fernsehen aufgewachsen ist, erlernt im hohen Alter den Umgang mit Smartphone und Tablet, um den Anschluss nicht zu verlieren. Frühmorgens liest sie die News online und ist oft schneller und besser informiert als ihre Töchter und Enkel, denen sie gerne Nachrichten auf dem Tablet schreibt und im Gegenzug so viele Fotos wie nur möglich erwartet. Mit ihren 90 Jahren, die man ihr überhaupt nicht ansieht, bewegt sie sich allein und selbstsicher zu Fuss oder mit dem öffentlichen Verkehr in der Stadt Zürich, als wäre sie hier aufgewachsen. «Gerne möchte ich mir einen Fitnesstracker zulegen, wie ihn all die jungen Menschen haben. So könnte ich allen schwarz auf weiss beweisen, dass ich täglich meine 10 000 Schritte absolviere», sagt sie und lacht.
Beweisen muss Maria gar nichts. Ihr bisheriger Weg und ihre Persönlichkeit sagen alles.
Dieser Text ist erstmals als Herzgeschichte im Magazin active & live erschienen.
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