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Leseschwierigkeiten – 5 Fakten, die Kindern helfen, besser zu lesen

Leseschwierigkeiten - 5 Fakten, die Kindern helfen, besser zu lesen

Besser lesen lernen

Das Lesen ist ein komplexer und faszinierender Prozess. Im Verborgenen unseres Gehirns entfaltet sich eine regelrechte akrobatische Darbietung, bei der Buchstaben zu Worten und Worte zu Verständnis werden. Monika und Thomas Abt, Eltern von vier Kindern und auf Rechen-, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten spezialisierte Lerncoaches erklären euch in ihrem Gastbeitrag fünf erstaunliche Fakten über Leseschwierigkeiten und zeigen euch auf, wie ihr euren Kindern helfen könnt, besser zu lesen.

Fünf Leseschritte

Lesen ist ein unnatürlicher Prozess. Das Sprechen, das Sehen, das Denken, das Fühlen. Für all das hat die Natur in unseren Genen ein Programm angelegt. Dieses läuft von allein ab und baut beim Heranwachsen die notwendigen Verbindungen im Gehirn auf. Das Lesen ist anders. Die hat es nicht vorgesehen. Vor knapp 6’000 Jahren benutzten unsere Vorfahren erstmals Schriftzeichen. Hier kam eine wundersame Eigenschaft des menschlichen Gehirns zum Tragen: Es kann sich verändern. Es knüpft neue Verbindungen. Es kombiniert genetisch angelegte Fähigkeiten neu. So “lernt” das Gehirn, die zahlreichen Verarbeitungsschritte beim Lesen auszuführen. Lass uns diese Schritte mal genauer anschauen. Stell dir dazu vor: Kim liest Papa aus ihrem Erstlesebuch vor. Ihre Augen schweifen gerade zum nächsten Wort:

  • Die visuelle Wahrnehmung: Ihre Augen erfassen die Form der Buchstabensymbole und leiten diese Information ans Gehirn weiter. Beispiel: Wenn Kim das Wort „Hund“ liest, “fotografieren” ihre Augen die Buchstaben H, u, n und d.
  • Die Buchstabenerkennung: Kims Gehirn identifiziert nun die einzelnen Buchstaben. Dabei versucht sie, das Abbild jedes Buchstaben im Gedächtnis aufzurufen. Beispiel: Ihr Gehirn erkennt die Buchstaben H, u, n und d.
  • Die Wortbildung: Nun setzt sie die erkannten Buchstaben zu einem Wort zusammen. Beispiel: Aus den Buchstaben H, u, n und d bildet das Gehirn das Wort „Hund“.
  • Die Aussprache: Gleichzeitig sucht Kims Gehirn die zu den Buchstaben passenden Laute. Sie spricht diese aus und verbindet sie zum Wort. Beispiel: Kim sagt das Wort “Hund”.
  • Das Verstehen: Nachdem Kim das Wort erkannt hat, versucht sie, dieses zu verstehen. Ihr Gehirn sucht nach Verknüpfungen zum Wort. Beispiel: Ihr Gehirn findet die Verknüpfung zwischen dem Wort „Hund“ und dem Bild eines vierbeinigen Tieres.

Merkst du, wie viele Verarbeitungsschritte beim Lesen ablaufen? Das macht den Prozess anspruchsvoll und fehleranfällig. Genau hier liegt das Problem bei Kindern mit Leseschwierigkeiten: Sie bleiben irgendwo in diesem komplizierten Ablauf hängen. Gleichzeitig verbirgt sich dahinter eine wundervolle Nachricht. Auch wenn dein Kind noch Mühe mit dem Lesen hat, kann es dies lernen. Sein Gehirn kann die Verknüpfungen schaffen, die es dafür braucht. Alles, was es benötigt, ist mehr Zeit und gezielte Unterstützung. Genau deshalb versagt bei Leseschwierigkeiten ein oft gehörter Ratschlag.

Fakt 1: Der Ratschlag, der überhaupt nicht hilft

Plumps! Der kleine Knirps landet sanft auf seinem Windelpopo. Er macht gerade seine ersten Gehversuche. Dabei fällt er dauernd hin. Würdest du seinen Eltern empfehlen, täglich 15 Minuten Lauftraining mit ihm zu machen? Wohl nicht. Denn das wäre die reinste Tortur für den Kleinen. Es ist vollkommen klar: Der kleine Junge soll einfach dort weiter üben, wo er in seiner Entwicklung ist. Schritt für Schritt wird er sicherer auf den Beinen stehen. Dann wird er den Bewegungsablauf immer besser meistern. Bald wird er einen Meter und dann auch längere Strecken laufen können. Genauso ist es beim Lesen.

Trotzdem erhalten Eltern von Kindern mit Leseschwierigkeiten immer wieder den Ratschlag: “Lesen Sie mehr mit Ihrem Kind!” Die Folge: Die Kinder wiederholen immer wieder, was ihnen nicht gelingt. Sie lassen immer wieder dieselben Buchstaben und Wortendungen weg. Oder: Sie stecken beim buchstabenweisen Lesen fest. Die erhofften Fortschritte bleiben aus. Vielmehr führt der gutgemeinte Ratschlag zu mehr Überforderung und Scheitern. Du fragst dich: Wie kann ich denn unterstützen? Übe mit deinem Kind wenig, dafür gezielt. Lege den Fokus darauf, wo dein Kind steht. Vielleicht sind dies die Buchstaben und die dazugehörenden Laute oder das Zusammenfügen zu Silben. Bleibe so lange dort, bis sich dein Kind sicher fühlt – dann gehst du weiter. So entwickelt dein Kind die sicheren Grundlagen, mit denen ihm der nächste Schritt gelingt. Fakt 1 lautet damit: Planlose Leseübung führt zur Überforderung. Übe lieber wenig, aber gezielt.

Fakt 2: Der leere Bilderrahmen

“Sie hat weisse Flecken am Bauch und an den Beinen…” Kim beschreibt gerade ihr Lieblingspferd Lucy. Das ist kinderleicht: Denn Kim sieht Lucy jede Woche. Sie striegelt ihr Fell und nimmt alle Details genau wahr. Kim hat ein glasklares Bild in ihrem Kopf, wie Lucy aussieht. Auch das Lesen hat viel mit Bildern zu tun: Buchstaben sind bildliche Symbole. Auch ganze Wörter ergeben ein Wortbild. Doch hier fehlt Kim die bildliche Vorstellung. Warum ist das so? Lucy ist Teil von Kims Lebenswelt: Sie sieht Lucy. Sie berührt Lucy. Sie spricht über Lucy. Sie denkt über Lucy nach. Und sie träumt sogar von ihr. Deshalb hat sie keine Mühe, sich das Pferd vorzustellen. Bei Buchstaben und Wörtern ist das anders: Sie haben keinen Bezug zu Kims Leben. Deshalb kann sie diese auch mit nichts verbinden. Auch wenn sie Buchstaben und Wörter immer wieder sieht, bleiben diese abstrakt und leblos. Sie schaffen den Schritt in Kims Vorstellung nicht.

Vielen Menschen geht es wie Kim: Sie haben Mühe, sich Abstraktes bildlich vorzustellen. Das Schöne ist: Auch sie können diese Bilder im Kopf abspeichern. Diese entstehen über den visuellen Sinneskanal: die Augen. Auch sie können zu Leseschwierigkeiten beitragen. Deshalb laden wir dich ein, dein Kind mit Leseschwierigkeiten bei einem Augenarzt untersuchen zu lassen. So kannst du ausschliessen, dass eine Sehstörung vorliegt. Fakt 2 lautet damit: Lesen besteht aus Bildern. Stelle deshalb sicher, dass dein Kind gut sieht.

Fakt 3: Voll am Limit

“Conni… ist… zu…” Kim legt nach jedem Wort eine kurze Denkpause ein. Manchmal sogar nach jedem Buchstaben. Ihre Mama wundert sich: “Warum schafft es Kim nicht, schneller zu lesen?” Das lässt sich mit dem Bild eines Computers veranschaulichen: Stell dir dazu einen Rechner aus den 1990er-Jahren vor. Damals leisteten die Computer noch “Schwerstarbeit”. Zumindest schien es so. Das Speichern eines Dokuments dauerte ewig. Während mehrerer Minuten ratterte die Festplatte – auf dem Bildschirm erschien ein Kreis. Der drehte und drehte. Währenddessen konnte man eine Taste drücken – doch nichts passierte. Der Arbeitsspeicher war voll ausgelastet. Auch Kims Gehirn stösst beim Lesen an seine Grenzen: Sie ist mit dem Erkennen der Buchstaben beschäftigt. Sie versucht, die Buchstabensymbole mit ihrem Gedächtnis abzugleichen und die passenden Laute zu finden. Das verlangt ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihr “Arbeitsspeicher” ist bis ans Limit beansprucht. Mehr ist nicht möglich. Merkst du auch, wie das Lesen dein Kind an seine Grenzen bringt? Dann kannst du ihm helfen, seinen “Arbeitsspeicher” zu trainieren.

Dieses Training kannst du wunderbar im Alltag einbauen. Wähle dazu ein paar Gegenstände, die gerade um euch herum sind. Zeige auf einen Gegenstand und lass dein Kind diesen benennen – zum Beispiel “Schere”. Nacheinander deutest du auf die Gegenstände und wechselst immer wieder ab. Dein Kind versucht, die Gegenstände blitzschnell zu benennen. Ohne Nachdenken, ohne Zögern. “Haargummi, Schere, Glas, Löffel, Schere, Haargummi…” Das ist pures Krafttraining fürs Gehirn. Fakt 3 lautet damit: Lesen erfordert einen leistungsfähigen “Arbeitsspeicher” im Kopf deines Kindes. Diesen kannst du trainieren.

Fakt 4: Das auch noch

Kim schaut zu Mama rüber. Ihr Blick ist voller Fragen. Sie hat gerade einen Abschnitt gelesen – und nichts verstanden. Deshalb bittet sie Mama um Hilfe: “Um was geht es hier?” Viele Kinder mit Leseschwierigkeiten haben Mühe mit dem verstehenden Lesen. Kein Wunder. Denn das blosse Erlesen eines Textes lastet sie voll aus. Den Inhalt des Gelesenen können sie nicht auch noch erfassen. Für uns Erwachsene ist das Verstehen ein “Beiprodukt” des Lesens. Es gelingt mühelos. Doch das Verstehen bringt eine zusätzliche Ebene in den Leseprozess: Kims Gehirn durchforstet das Gedächtnis und sucht nach bestehenden Verknüpfungen zum Wort. So erschliesst sie sich die Bedeutung des Wortes. Und das ist nicht alles. Nun geht es um das Umfeld des Wortes: Was bedeutet es im Satz, im Abschnitt und im Zusammenhang des ganzen Textes? Du merkst: Das Verstehen ist nicht nur ein zusätzlicher Denkschritt. Es bringt mehrere Verarbeitungsschritte, die gleichzeitig ablaufen sollen. Das braucht Übung.

Das Gute ist: Du kannst dein Kind wundervoll ans verstehende Lesen heranführen. Wie? Lege den Fokus erstmals aufs Verstehen – und trenne dieses vom Lesen. Lass dazu dein Kind immer wieder kleine Dinge in seinen eigenen Worten wiedergeben. Wenn du ein Buch vorliest, kann dein Kind dir die Handlung nacherzählen. Starte dabei ganz klein – ein paar Sätze genügen. Es kann sein, dass dies deinem Kind anfangs schwerfällt. Vielleicht bringt es den zeitlichen Ablauf durcheinander. Oder es vergisst Inhalte. Das ist okay. Lass dein Kind einfach ausprobieren und freue dich an den Fortschritten, die du bald erkennst. Als nächstes kann dein Kind selbst einen kurzen Abschnitt lesen und diesen in seinen eigenen Worten zusammenfassen. So gelingt ihm das verstehende Lesen immer leichter und besser. Fakt 4 lautet damit: Das Verstehen ist kein “Beiprodukt” des Lesens. Führe deshalb dein Kind bewusst ans verstehende Lesen heran. 

Fakt 5: “Nur mit dir, Mama!”

Kim reagiert nicht. Sie sitzt nur da und schweigt. Ihre Augen zielen auf den Boden. So versucht Kim, dem Blick ihrer Lehrerin auszuweichen. Denn eigentlich wäre sie nun an der Reihe, einen Satz laut vorzulesen. Doch Kim traut sich nicht. Sie hat Angst, dass sie sich wieder verliest und die anderen Kinder sie auslachen. Zuhause ist das anders: Mit Mama kann sich Kim aufs Lesen einlassen. Sie weiss, dass Mama einfach da ist und sie unterstützt. Mama lacht oder schimpft nicht, auch wenn gar nichts mehr geht. Bei Mama fühlt sich Kim sicher: Sie spürt Halt, Vertrauen und Zuneigung. Wir laden dich ein: Nutze bewusst die Kraft der Eltern-Kind-Beziehung.

Wunderbar gelingt das mit einer gemeinsamen Lesezeit – beispielsweise als Teil des Abendrituals. Ganz wichtig: Lege dabei den Fokus auf die Beziehung – nicht die Leseleistung. Deshalb darfst du vorlesen. Wenn dein Kind selbst liest, darfst du unterstützen. Wenn es ermüdet oder stecken bleibt, übernimmst du. Das Ziel ist ein verbindendes Leseerlebnis. Dafür gibt es eine wundervolle Lesestrategie: das Tandem-Vorlesen. Sie verbindet das Vorlesen mit einem “Leseanteil” deines Kindes – ohne Druck und Zwang. So wird das Lesen zu einer exklusiven Beziehungszeit. Falls du mehr wissen möchtest, findest du die detaillierte Anleitung dazu im nachfolgenden gratis e-Book:

Auch wenn Kinder eine LRS-Förderung – beispielsweise eine Lerntherapie – besuchen, bietet die verbindende Lesezeit eine willkommene Abwechslung. Fakt 5 lautet damit: Für Kinder mit Leseschwierigkeiten ist Lesen eine schmerzhafte Erfahrung. Nutze deshalb die Kraft der Eltern-Kind-Beziehung, um deinem Kind ein positives Leseerlebnis zu schenken.

Der Startpunkt für dich

Nun weisst du es: Leseförderung ist viel mehr als einfach mehr Texte zu lesen. Wirksame Förderung bei Leseschwierigkeiten setzt auf eine clevere Kombination: Sie verbindet punktgenaue Unterstützung mit viel Beziehung. Genau dort liegt der natürliche Startpunkt für dich: auf der Beziehungsebene. Denn da bist du Experte / Expertin: Du bist eng mit deinem Kind verbunden. Du kennst alle seine Ecken und Kanten. Du kannst es sanft und liebevoll ans Lesen heranführen. Auch wenn dein Kind massive Schwierigkeiten mit dem Lesen hat. Auch wenn es in der Schule gar nicht lesen möchte. Für ein verbindendes Leseabenteuer mit dir ist dein Kind auf jeden Fall offen. Probier’s aus. Es lohnt sich. Das zielgerichtete Lesetraining ist dann der nächste Schritt: Auch dafür hast du erste Impulse. Für alles Weitere darfst du dir fachliche Hilfe von aussen holen.

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Das Lesen ist ein komplexer und faszinierender Prozess. Im Verborgenen unseres Gehirns entfaltet sich eine regelrechte akrobatische Darbietung, bei der Buchstaben zu Worten und Worte zu Verständnis werden. Monika und Thomas Abt, Eltern von vier Kindern und auf Rechen-, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten spezialisierte Lerncoaches erklären euch in ihrem Gastbeitrag fünf erstaunliche Fakten über Leseschwierigkeiten und zeigen euch auf, wie ihr euren Kindern helfen könnt, besser zu lesen.

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