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Kinderkrebs – Wenn die Kasse nicht zahlt

Bild zVg Kinderkrebs Schweiz
Werbung in Zusammenarbeit mit Kinderkrebs Schweiz

Schwieriger Zugang zu lebenswichtigen Therapien und Medikamenten

Erkrankt das eigene Kind an Krebs, ist das für die Eltern eine äusserst belastende Erfahrung. Besonders schwierig wird die Situation, wenn dringend notwendige Medikamente und Zusatztherapien von der Krankenkasse nicht oder erst nach sehr viel bürokratischem Aufwand bezahlt werden. Dies führt bei den Eltern zu einer enormen Zusatzbelastung und grosser Unsicherheit, in einer Zeit, in der das Überleben ihres Kindes im Mittelpunkt steht. Die vom Bund aktuell geplante Reform der Krankenversicherungsverordnung wird die Problematik diesbezüglich noch verschärfen und den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten für krebskranke Kinder weiter verschlechtern. Im Rahmen der neuen Kampagne von Kinderkrebs Schweiz haben wir mit den Eltern eines an Leukämie erkrankten Kindes über die grossen emotionalen, organisatorischen und nicht zuletzt auch finanziellen Herausforderungen gesprochen.

Vereinfachte Kostenübernahme kann Leben retten

Die meisten der rund 350 Kinder und Jugendlichen, die jährlich in der Schweiz an Krebs erkranken, werden im Rahmen von internationalen Therapieprotokollen behandelt. Diese stellen weltweit höchste Behandlungsstandards sicher und sind von Swissmedic zugelassen. Trotzdem müssen standardisierte Behandlungselemente, dank derer im Durchschnitt 80 Prozent der Kinder geheilt werden können, gegenüber den Versicherern immer wieder begründet und durchgesetzt werden. Doch zeitaufwendige Abklärungsverfahren und unnötige Bürokratie beeinträchtigen die Heilungschancen der jungen Patient:innen, die meistens an hochgradig bösartigen, schnellwachsenden Krebsarten leiden. Um keine wertvolle Zeit zu verlieren und möglichst rasch mit Therapien starten zu können, sollten alle Medikamente, die im Rahmen dieser Behandlungsprotokolle vorgesehen sind, in Zukunft automatisch von den Krankenkassen oder der IV zurückerstattet werden. Besonders problematisch ist die Situation bei komplexen Fällen oder bei Rezidiven (Rückfällen). Wenn die Erstbehandlung nicht anschlägt oder es zu einem Rückfall kommt, gibt es bei seltenen Krankheiten wie Kinderkrebs meist kein Behandlungsprotokoll, mit dem sich der therapeutische Nutzen bei den Versicherern eindeutig nachweisen lässt.

Wir haben mit den Eltern von Jonas, der nicht nur an einer schweren Leukämie erkrankt ist, sondern auch einen Rückfall erlitt über die verschiedenen Herausforderungen gesprochen, denen sie sich als Familie stellen müssen. Nebst der emotionalen Ausnahmesituation und den riesigen organisatorischen Hürden, stellen auch finanzielle Fragen einen äusserst belastenden Unsicherheitsfaktor dar.

Liebe Marianne, lieber Silvan, wie kam es zu Jonas‘ Krebsdiagnose?

Unser Sohn war im August 2019 gerade seit einer Woche im Kindergarten, als wir Hämatome an seinem Körper entdeckten. Zunächst dachten wir, dass die blauen Flecken vom Herumtoben und Fussballspielen im Kindergarten stammten und machten uns deshalb keine grossen Sorgen. Doch als kurz darauf zusätzlich rote Punkte (Einblutungen, die als Petechien bezeichnet werden) an den Beinen auftraten, entschieden wir uns, die Kinderärztin aufzusuchen. Diese wies uns umgehend in die Notfallstation des Inselspitals Bern ein. Dort erhielten wir noch am selben Abend die niederschmetternde Diagnose «akute Leukämie». Die genaue Leukämieform war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Weil das Blutbild von Jonas massive Veränderungen aufzeigte und unter anderem die Gefahr einer Thrombosebildung bestand, musste er einige Tage lang auf der Intensivstation beobachtet und behandelt werden. Unser Sohn war vorher nie krank gewesen und er zeigte auch keine typischen Krebssymptome, wie zum Beispiel wiederholte Infektionskrankheiten mit Fieber.

Wie ging es dann weiter?

Jonas musste sich einer zweijährigen Chemotherapie mit diversen Zytostatika (Arzneimittel, die das Zellwachstum hemmen) unterziehen. Nach dieser sehr anspruchsvollen Behandlung wurden ab August 2021 engmaschige Kontrollen der Blutwerte weitergeführt. Mehrere Monate lang schienen alle Werte wieder vollkommen normal zu sein. Doch nach neun Monaten – nur eine Woche nach einer dieser zuversichtlich stimmenden Kontrolluntersuchungen – entdeckte Jonas erneut rote Punkte auf seiner Haut. Nach diesem Rückfall ging die Therapie weiter mit Zytostatika, Antikörper, Ganzkörperbestrahlung und schliesslich einer Stammzellentransplantation. Die Spende erfolgte durch Jonas‘ Zwillingsschwester. Das war ein glücklicher Zufall, denn bei Geschwistern ist nicht immer sicher, ob sie als Spender:in in Frage kommen.

Hatte Jonas Nebenwirkungen infolge der Therapie und der Medikamente?

Während der Behandlung mit den Zytostatika, die Jonas die ersten zwei Jahren lang täglich einnehmen musste, litt er praktisch konstant an starker Übelkeit, verbunden mit sehr viel Erbrechen und heftigen Kopfschmerzen. Auch wenn die Therapie aus einer fixen Zweierkombination an Medikamenten gegen die Übelkeit sowie Schmerztabletten bei starken Kopfschmerzen bestand, verschwanden die Übelkeit und das Kopfweh nicht wirklich. Dazu kamen weitere klassische Nebenwirkungen der Chemotherapie wie Haarausfall, Bauchschmerzen, starke Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Skelettschmerzen, Infektionen mit plötzlich auftretendem hohem Fieber (teils bis 41 Grad), Schwindel, Sonnenempfindlichkeit und Schweissausbrüchen. In den ersten Wochen nach der Transplantation war Jonas auch immer wieder auf Blutprodukte angewiesen, da die hochdosierte Chemotherapie neben den Leukämie- auch seine eigenen Stammzellen komplett zerstört hatte.

Was passierte nach der Stammzellentransplantation?

Nach der Stammzelltransplantation musste Jonas ein strenges Hygienekonzept einhalten. Das bedeutete für uns alle bis vor kurzem, eine keimarme Kost einhalten, Pflanzen und Teppiche aus den Wohnräumen entfernen und auf Besuche verzichten. Auch gab es immer wieder Zeiten, in denen er aufgrund der Therapienebenwirkungen kraftlos und sehr müde war. Er musste täglich bis zu 15 Tabletten einnehmen, dazu gehörten unter anderem Immunsuppressiva, Virostatika, Antibiotika, Antimykotika und aufgrund der aggressiven Form seiner Leukämie auch weiterhin ein Zytostatikum neuerer Generation. Aber dank dieses neuartigen Medikamentes leidet Jonas unter deutlich weniger Nebenwirkungen als dies beim Vorgängerpräparat der Fall war. Allerdings erwarteten Jonas mit der Stammzelltransplantation zusätzliche Nebenwirkungen wie Entzündungen der Mund-Magen-Darmschleimhaut, sehr starke Kopf- und Augenschmerzen sowie Abstossungsreaktionen, die sich durch Hautausschläge und Bauchkrämpfe bemerkbar machten. Es ist also nach wie vor sehr schwierig.

Wurden die Kosten für die Therapie und für die Medikamente von der Krankenkasse übernommen?

Das Zytostatikum neuerer Generation, das Jonas seit seinem Rückfall einnehmen muss, ist aufgrund fehlender internationaler Studien nicht auf der Arzneimittelliste. Deshalb lehnte die Krankenkasse die Kostenübernahme zunächst ab. Erst nach nervenaufreibenden Diskussionen mit uns Eltern, Anträgen auf Kostengutsprachen durch die Kinderonkologen und mehrfachem Insistieren, konnte schliesslich eine Einigung zwischen dem Hersteller des Medikamentes und der Krankenkasse gefunden werden – allerdings zeitlich begrenzt. Nach einigen Monaten mussten die zuständigen Kinderonkologen die verbesserte Wirkung des Medikamentes nachweisen, um eine weitere Kostenübernahmen durch die Krankenkasse zu sichern. Somit ist eine langzeitige Kostenübernahme – Stand heute – noch nicht gewährleistet. 

Wie sieht es mit weiteren Zusatzkosten, zum Beispiel für Begleittherapien, aus?

Schwierig ist, dass auch die Kosten, die im Rahmen der Begleittherapien anfallen und von Fachärzten verschrieben wurden, nicht rückerstattet werden. Das sind bei Jonas zum Beispiel Handschuhe für die Verabreichung der Chemotherapie, Desinfektionsmittel, Vitamin D, Pflegeprodukte für den Körper usw. Es ist unglaublich, dass all dies von der Krankenkasse trotz der nachweislich schweren Erkrankung und der ausgestellten Rezepte nicht bezahlt wird, nur weil diese Produkte nicht auf der entsprechenden «Liste» stehen. Und als ob das nicht genug wäre, fallen darüber hinaus weitere Zusatzkosten wie zum Beispiel Fahrtkosten, Parkgebühren, Verkostung im Spital, Kinderbetreuung der Geschwisterkinder, Elternzimmer bei Langzeitspitalaufenthalten und vieles mehr an – auch diese werden nicht von den Versicherern übernommen. Das kann für manche Eltern schnell zu einer grossen finanziellen Belastung werden. 

Welchen Einfluss wird die vom Bund geplante Reform der Krankenversicherungsverordnung auf euch und auf andere Betroffene haben?

Die Hürden zur Finanzierung und somit zur Durchführung von Therapien mit innovativen Medikamenten, insbesondere bei seltenen Krankheiten, wird sicherlich noch viel schwieriger oder teils sogar unmöglich werden. Im Zusammenhang mit der extrem seltenen Leukämieform unseres Sohnes existieren bis heute keine abgeschlossenen internationalen Studien zu neueren Therapieformen, wie zum Beispiel die Antikörpertherapie und die Therapie mit Zytostatika neuerer Generation. Mit der geplanten Reform hätte dies künftig zur Folge, dass in einem solchen Fall die verbesserte Wirksamkeit der neuen Medikamente nur schlecht im gemäss Reform vorgegebenem Masse nachgewiesen werden könnte. Kinderkrebspatient:innen kämen somit nicht in den Genuss einer vielversprechenderen Behandlung. Mit anderen Worten: Ein noch schwierigerer Zugang zu Therapien und Medikamenten hat in vielen Fällen zur Folge, dass neue, vielversprechende Therapien und Medikamente aus Kostengründen wohl gar nicht mehr verschrieben werden. Die Folgen für die Patient:innen wären fatal. Viele kranke Kinder – und auch Erwachsene – müssten leider auf vielversprechende Therapien und Medikamente verzichten. Dadurch hätten sie in vielen Fällen geringere Heilungschancen, schlimmere Nebenwirkungen und mit grosser Wahrscheinlichkeit ein viel kürzeres Leben vor sich – mit allen negativen Folgen auch für die Eltern, Geschwister und ihr ganzes Umfeld.

Wie geht es Jonas heute?

Jonas geht es aktuell recht gut. Er hat mehr Energie und Lebensfreude als noch vor einem Monat. Er kann sich besser konzentrieren und macht klare Fortschritte auch in Bezug auf seine körperliche Fitness. Auch die Lockerungen bei der keimarmen Kost oder bei den Hygienemassnahmen sowie das Nachwachsen der Haare lösen bei ihm grosse Freude aus und helfen, dass nicht nur er, sondern die ganze Familie optimistisch nach vorne blicken kann. Die Hoffnung auf den baldigen (wesentlich früher als ursprünglich geplanten) Schulbesuch motiviert Jonas zusätzlich und gibt ihm Aufschwung. Die wöchentlich abgenommenen Laborwerte und die Resultate der Knochenmarkpunktion sind stabil und vielversprechend, seine Nebenwirkungen treten massiv weniger, zum Teil gar nicht mehr auf. Die positive Entwicklung führen wir insbesondere auf den Einsatz des neuen Medikamentes zurück. Der Gedanke, dass wohl viele Patient:innen aufgrund der geplanten Reform (aus Kostengründen) nicht mehr von besseren Therapien resp. Medikamenten profitieren könnten, stimmt uns nachdenklich und traurig. Aus unserer Sicht wäre das ein Rückschritt im Gesundheitswesen und ethisch sehr stossend, sprich kaum vertretbar.

Welches sind eure Wünsche, eure Erwartungen an die Politik in Bezug auf dieses wichtige Thema?

In erster Linie wünschen wir uns, dass Jonas wieder gesund wird und gesund bleibt. Trotz vieler bereits gemeisterten Etappen ist uns bewusst, dass wir noch nicht definitiv über dem Berg sind. Des Weiteren wünschen wir uns und anderen Betroffenen, dass Therapien und Medikamente, welche die Kinderonkolog:innen (oder auch andere Spezialisten) als die Besten und Wirkungsvollsten erachten, auch so verordnet werden können. Und zwar ohne dass die Finanzierung das vordergründige Thema ist und die Heilung eines Menschen damit offensichtlich in den Hintergrund rückt. Die vom Bund geplante Reform der Krankenversicherungsverordnung in Bezug auf den Einsatz neuer Medikamente und Behandlungsformen sollte kritisch hinterfragt, wo nötig zwischen den relevanten Stakeholdern konstruktiv-kritisch diskutiert und zugunsten schwer kranker Patient:innen angepasst werden. Für Eltern mit einem kritisch kranken Kind sollte es künftig nicht noch schwieriger werden als es heute schon ist, sondern einfacher.

Wie sieht es bei den anderen Kosten aus?

Ganz allgemein sollten sämtliche Mehrkosten aufgrund der schweren Erkrankung abgedeckt sein und von der Krankenkasse oder der IV übernommen werden oder mindestens steuerlich abgezogen werden können – ohne Hürden! Das würde vieles vereinfachen und fairer gestalten. In unserem Fall kosten die ganze Administration, die gestellten Gesuche, geführten Gespräche, Rückforderungen von bezahlten Rechnungen, nicht von der Krankenkasse übernommene Medikamente und Verbrauchsmaterialien, Rechtfertigungen gegenüber Arbeitgeber und Behörden sehr viel Geld und noch mehr Energie, die wir in dieser so belastenden Situation einfach nicht übrighaben. Zum Glück durften wir bezüglich administrativer Belange und entlastender Angebote für die ganze Familie auf die Unterstützung der Kinderkrebshilfe Schweiz, einer Mitgliedsorganisation von Kinderkrebs Schweiz, zählen.  

Vielen Dank, liebe Marianne, lieber Silvan, für den Einblick, den ihr uns in euer Familienleben gewährt habt sowie für die Informationen rund um die Herausforderungen bei der Finanzierung von Therapien und Medikamenten gegen Kinderkrebs. Wir schliessen uns euren Wünschen an, dass alle an Krebs erkrankten Kinder ein Anrecht auf die vielversprechendste Behandlungsform haben.

*Aus Diskretionsgründen haben wir die Namen der Familienmitglieder frei erfunden.


Die Reform des Bundes bringt krebskranke Kinder und Jugendliche in eine Notlage

In der aktuellen Revision werden neu klinisch kontrollierte Studien vorausgesetzt, die eine Verbesserung von mindestens 35 Prozent im Vergleich zur Standardarzneimitteltherapie oder – beim Fehlen einer solchen – zu Placebo aufweisen. Insbesondere bei seltenen Krankheiten, wie Kinderkrebs, gibt es bei Rezidiven oder refraktären Krankheiten (die auf die Standardtherapie nicht ansprechen) leider kaum Behandlungsprotokolle. Die im Vergleich zu erwachsenen Krebspatienten geringe Anzahl krebskranker Kinder macht es für die Hersteller wenig attraktiv, in diesem Bereich zu forschen. Zudem erfüllen viele Medikamente, die aktuell auf der sogenannten Spezialitätenliste aufgeführt sind, das Kriterium der 35 Prozent nicht. Medikamente im Off-Label-Use müssten in diesem Fall strengere Kriterien als kassenpflichtige Arzneimittel erfüllen. Als Konsequenz würden
diese Behandlungen in Zukunft noch schwerer vergütet werden und somit betroffene Patientinnenund Pati enten in eine Notlage bringen. Der aktuelle Revisionsvorschlag des Bundes wird das Problem des gleichberechtigten Zugangs zu lebenswichtigen Medikamenten in der Kinderonkologie nicht lösen, sondern teils spürbar verschlechtern. Kinderkrebs Schweiz lehnt deshalb den Verordnungsentwurf ab und bietet stattdessen eine aktive Unterstützung bei der Ausarbeitung tragfähiger Lösungen an.

Weitere Informationen gibt es auf der Webseite von Kinderkrebs Schweiz

Dieses Interview ist in Zusammenarbeit mit Kinderkrebs Schweiz entstanden.

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