Sich auf Neues einlassen
Wir Auslandschweizer, die Familie und Freunde zurücklassen, um in der Fremde neues Glück zu finden, lassen uns ganz anders als die Einheimischen auf unsere neue Heimat ein und sind empfänglich für langjährige Freundschaften, wie ich es bereits in meinem letzten Text beschrieben habe. Ebenso sind wir empfänglich dafür, «adoptiert» zu werden.
Neue Definition von Familie und Freundschaft
So stellte meine 91jährige Nachbarin, die ich als Vorbild erachte, weil sie immer noch alleine lebt, kocht, Velo fährt und sogar für Kunden näht und flickt und die ich ein- bis mehrmals wöchentlich besuche, stellte vor ein paar Monaten klar, dass ich im Fall für sie nicht etwa eine Fremde sei, sondern ihre «adoptierte Enkelin». Zuerst war ich ob der offenen Liebeserklärung überrascht, aber es freute mich ungemein, neben meiner immer noch lebenden, mittlerweile fast 97jährigen leiblichen Grossmutter noch eine «adoptierte» Grossmutter zu meinem Familienkreis zählen zu dürfen.
Tatsächlich hat sich in den 16 Jahren, in der ich sie kenne und hierher gezogen bin, unsere Beziehung immer mehr vertieft, nicht zuletzt wegen Corona, als sie ziemlich isoliert und zermürbt in ihrer Wohnung sass und mit mir darüber sprach, wie schwierig es für die älteren Leute sei, dies noch durchmachen zu müssen. Mit 10 Jahren hat sie den 2. Weltkrieg miterlebt und erzählt mir dann und wann Anekdoten davon. Überhaupt kann ich mit ihr über alle möglichen Themen sprechen – sie ist sehr feministisch angehaucht, denn in den 1970er Jahren war sie eine von wenigen Frauen, die sich scheiden liessen, aus gutem Grund, auf den ich hier nicht näher eingehen möchte. Sie ist mutig und strotzt den Tücken des Alltags. Dass sie alleine zwei Kinder grossgezogen hat, merkt man ihr an. Sie lässt sich durch nichts unterkriegen. Sie meine Adoptivgrossmutter nennen zu dürfen, macht mich stolz. Fast zur gleichen Zeit erzählte mir meine 19jährige Tochter, dass auch sie sich von den Grosseltern eines Freundes «adoptieren» gelassen hat. Man sieht – wenn die Lieben so weit weg sind, kompensiert man die Zuneigung vor Ort. Doch der Beziehung zu den zurückgelassenen Verwandten und Freunden tut dies wohlgemerkt keinen Abbruch. Im Gegenteil – meiner Schweizer Grossmutter erzähle ich liebend gerne von meiner italienischen Adoptivgrossmutter, und umgekehrt.
Bereichernde kulturelle Vielfalt
Überhaupt tragen wir, ich und meine Familie, wunderbar zu einer Kulturenvermischung bei – da soll mal einer behaupten, Multikulti sei uncool. Wir leben täglich zwischen zwei und auch mal mehreren Kulturen und finden dies bereichernd, für alle Seiten. So hatten wir vor Kurzem Bauarbeiten in und ums Haus – die Maurer waren nicht etwa Italiener, sondern Marokkaner. Die ich für ihren Glauben und ihre Genauigkeit sehr bewunderte und mit denen wir uns über Gott und Allah und die Welt austauschen konnten. Und dabei viel Neues lernten. Die Welt und deren Bewohner sind nicht immer nur schlecht, und ich möchte auch nicht nur immer mit der rosaroten Brille die Welt betrachten, doch im Alltag kann ich wirklich nur von guten Erfahrungen mit anderen Kulturen berichten. Denn schliesslich, Hand aufs Herz, leben wir doch alle unter demselben Sternenhimmel auf dem gleichen Planeten, nicht?
Mögt ihr den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen? Wo erlebt ihr verschiedene Kulturen – in der Familie, im Freundeskreis, im Berufsalltag?
Lust, weitere interessante Beiträge unserer Co-Bloggerin Sarah zu lesen? Nachfolgend findet ihr die Links zu ihren spannenden Rubriken:
Keine Kommentare